Isau, Ralf - Neschan 03
wie Bar-Hazzat ihn vergessen hatte, der auf der Spitze des Schwarzen Turmes thronte. Nur Firn dachte an ihn. Firn vergaß nie etwas.
Firn, das war der Kerkermeister dieses Verlieses, ein Wesen, von dem sich nicht mit Bestimmtheit sagen ließ, ob es je menschliche Ahnen besessen hatte. Vernunft, Mitgefühl und Humor schienen ihm fremd zu sein. Sein Gehorsam gegenüber Bar-Hazzat gründete sich eher auf Gewohnheiten denn auf Pflichtgefühl oder Furcht. Natürlich flößte der dunkle Herrscher jedem Wesen Angst und Schrecken ein. Aber Firn besaß zu wenig Verstand, um sich ernsthaft einschüchtern zu lassen. Er war ein Fleischberg, bleich, unbehaart, schmutzig. Ein einziges Auge stand ihm mitten auf der Stirn, doch das taugte nicht viel. Wenn ein neuer Gefangener in seiner lichtlosen Zelle wahnsinnig wurde, wenn er schrie und brüllte und am Ende dann nur noch leise wimmerte, störte das Firn nicht; er bemerkte es kaum. Bei alldem war Firn durchaus zuverlässig. Sobald ein Befehl Eingang in seinen massigen Kopf gefunden hatte, führte er ihn mit ruhiger Beharrlichkeit aus.
Diesem Umstand verdankte der Jäger sein Überleben. Firn vergaß nie, die kargen Rationen durch die Klappe in der Kerkertür zu schieben. Gelegentlich revanchierte sich der Gefangene dafür mit einer halb verzehrten Ratte.
Schon oft in den vergangenen drei Jahren hatte er sich gefragt, ob dieses langsam verlöschende Leben im lichtlosen Raum nur eine andere, eine besonders grausame Form der Todesstrafe war. Anfangs erschien es ihm so, zumal er das Urteil verdient hatte. Aber dann warfen seine fiebrigen Gedanken Fragen auf, die er nicht beantworten konnte. Warum war gerade er nicht getötet worden, als er den Knaben im Grenznebel verfolgte? Warum hatte er die weite Strecke zurück nach Gedor schadlos überstanden? Und weshalb hatte ihn Bar-Hazzat nicht sogleich vernichtet? Rücksichtnahme gehörte nicht gerade zu seinen Tugenden.
Er, der einst so gefürchtete Jäger, hatte alles verloren, selbst seinen Namen. Doch sogar in dieser ausweglosen Situation war ihm sein Leben als Pfand geblieben. Es musste eine Erklärung dafür geben. Vielleicht existierte ein größerer Plan, in dem auch er eine Bestimmung hatte?
Diese Hoffnung verschaffte ihm neuen Mut, neue Kraft; sie ließ ihn in der Gruft überleben, deren Siegel der Schwarze Turm war. Die Leute sagten, dass von diesem Ort die Schatten ausgingen, welche die Bewohner Neschans bedrückten. Aber auch er würde eines Tages von hier entkommen – jedoch nicht als Schatten. Und dann, das spürte er mit jeder Faser seines Körpers, sollte er seine wahre Bestimmung erfüllen.
III.
Ein neugieriger Haufen
Der Himmel lag grau über der Steppe. Mit dem Verlassen des Grenznebels schien auch der Winter zurückgekehrt zu sein. Einmal mehr hatte sich Yonathan gefragt, ob Gan Mischpad, der Garten der Weisheit, überhaupt in dieser Welt lag. Doch schnell hatten sich seine Gedanken wieder dem Naheliegenden zugewandt und er war in quälendes Grübeln versunken.
»Mein Pferd ist gesprächiger als du!«, beklagte sich Gimbar, nicht zum ersten Mal. »Hätte ich gewusst, dass ich mit einer Holzpuppe durch die Steppe reiten muss, dann hätte ich mir ein paar Bücher aus dem Kontor mitgenommen. Da gibt es noch einiges aufzuarbeiten!«
Ein kurzer Seufzer kam aus Yonathans Kehle. »Ich bin sehr froh, dass du mich begleitest, Gimbar.«
»Danke nicht mir, sondern Schelima«, erwiderte der Händler, der jetzt den Eingeschnappten mimte. »Ich hoffe nur, Felin bringt ihr schonend bei, dass sie ihren Mann nicht wiedersieht, bevor diese Welt nicht untergegangen und wieder auferstanden ist.«
»Sie hat sicher Verständnis dafür.«
»Ich wusste, dass du kein Mitleid mit mir haben würdest!«
»Wann, glaubst du, werden wir die Östliche Handelsroute erreichen?«, fragte Yonathan nachdenklich.
»Zuerst müssen wir die Hauptstadt des Königreichs der Squaks hinter uns haben und bis dahin sind es noch mindestens zwei Monate.«
»Ich habe einmal einige dieser seltsamen Vogelwesen gesehen.
Erinnerst du dich? Es war bei den Feiern zum dreißigjährigen Jubiläum der Thronbesteigung von Kaiser Zirgis.«
»Und ob ich mich erinnere! Die Gewänder dieser Biester waren schreiend bunt, unmöglich sie zu vergessen!«
»Auch sie sind vernunftbegabte Geschöpfe. Vielleicht solltest du ein wenig respektvoller von ihnen sprechen?«
»Pah!«, schnaubte Gimbar. »Wenn es sich nur um Äußerlichkeiten drehen würde – die
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