Isau, Ralf - Neschan 03
Richter von Neschan freigegeben. So vieles war neu auf dieser Welt des Trostes, dass seine Bewohner Jahrhunderte brauchen würden, um wenigstens einen Teil davon zu erfassen.
Am Abend desselben Tages standen Yonathan und Bithya ineinander versunken im Rosengarten des Palastes. Die Spuren von Garmoks Landung waren längst zugewachsen. Auch die Natur atmete ein neues Leben. Über ihren Köpfen sahen die beiden Jungvermählten den Sternenhimmel. Die Weltentaufe hatte selbst ihn verändert, aber das schien bisher nur Yonathan aufgefallen zu sein. Zugegeben, die Unterschiede waren gering, nachdem die Welt Meschelem zu ihrer Schwester gerückt war. Nicht mehr länger waren sie einander entfremdet. Es gab kein schwarzes Schaf mehr in der funkelnden und glitzernden Himmelsherde. Die Weltentaufe hatte Neschan zurückgeholt und an die Seite ihrer Schwester gerückt. Yonathan hatte es beobachtet, nachdem er unter dem Sprössling des Lebensbaumes erwacht war, aber zunächst glaubte er, sich zu täuschen.
»Ist es nicht wunderbar, dass wir nun jede Nacht beisammen sein können, um diesen Himmel zu bewundern?«, hauchte Bithya gerade ihrem Gemahl ins Ohr.
Yonathan spürte ein angenehmes Prickeln auf der Haut. »Ich glaube, dazu werde ich nicht immer Lust haben«, bemerkte er trocken.
Bithya schob ihn ein wenig von sich weg – nicht allzu weit allerdings. »Was willst du damit sagen? Dass du schon bald meiner überdrüssig sein wirst?«
Yonathan musste lachen. Seine kleine Stachelwortspuckerin! Er zog sie zu sich heran und flüsterte ihr ins Ohr: »Das heißt doch nur, dass es andere Dinge gibt, die ich noch sehr viel lieber anschaue als die Sterne da oben.«
Bithyas strenger Blick wurde weich. »In deinen Augen bin ich also schöner als alle diese strahlenden Himmelskörper?«
»Ja, Liebes. Aber vielleicht gibt es jemanden, der es mit dir aufnehmen könnte.«
Wieder verschaffte sich Bithya Raum. »Welche Schönheit kennst du denn noch?«
»Keine, die du fürchten müsstest«, lachte Yonathan heraus und drückte sie an sich. »Schau, dort.« Er deutete mit dem Finger auf ein besonders helles und großes Licht, das blau am Himmel funkelte. »Siehst du den Stern?«
»Den blauen, meinst du?«
»Genau den. Das ist die Erde.«
Diesmal löste Bithya nur ihre Wange von der Yonathans. »Die Erde?«
»Von da komme ich her, wie übrigens alle Richter. Es gab Zeiten, zu denen die beiden Welten nur durch Träume verbunden waren, aber heute kann sich jeder mit einem einzigen Blick zum Himmel davon überzeugen, dass sie wieder vereint sind.«
»Dann gibt es dort auch Menschen?«
»Bin ich etwa keiner?«
»Ich glaube schon – allerdings ein ganz besonderes Exemplar.«
»Danke.«
»Leben die Menschen auf der Erde auch wieder in Frieden zusammen wie wir hier?«
Yonathan dachte lange darüber nach, wie viel Zeit wohl nötig gewesen war, damit aus Haschevet ein neuer Lebensbaum erwachsen konnte. Schließlich antwortete er: »Doch, Liebes. Ich bin mir sogar sicher, dass nun auch dort Frieden herrscht.«
Am nächsten Tag wurden die Feierlichkeiten fortgesetzt. Jeder wollte den beiden jungen Paaren gratulieren, sie berühren, mit Geschenken überhäufen, ihnen den Segen Yehwohs wünschen, wertvolle Ratschläge für das Eheleben geben…
Erst als der Abend nahte, kam die fröhliche Hektik unter den geladenen und ungeladenen Gästen im Palast etwas zur Ruhe. Ein ganz besonderer Anlass ließ die im Garten versammelten Menschen nun verstummen und gespannt lauschen: Das Lied der Befreiung Neschans sollte zum ersten Mal vorgetragen werden. Diese ehrenvolle Aufgabe war Ascherel zuteil geworden und die Weisheit dieser Entscheidung zeigte sich bald.
Mit warmer, weicher Stimme sang sie das Große Lied. Aus zahlreichen Strophen erschuf sie einen wunderschönen Bilderteppich. Noch einmal vernahmen die Anwesenden die Geschichte der Richter Neschans, hörten von Yenoach und der Tränenland-Prophezeiung bis hin zu Geschan. Aber auch andere fanden den ihnen gebührenden Platz: Navran Yaschmon, der weise Ziehvater Yonathans; Yomi, der Treue; Din-Mikkith, der Freund aller Lebenden Dinge; Gimbar, der Zweimalgeborene; Galal, das gewaltige Traumfeld; Baltan, der listige Kaufmann; Goel, der Lehrmeister Yonathans; Bomas, der Dreitagekaiser; Bithya, Yamina, Garmok, Yublesch-Khansib und viele, viele mehr- auch Sethur war nicht vergessen, der, wie einst Gimbar, für Yonathan sein Leben gegeben hatte.
Das Lied der Befreiung Neschans ist lang, und es
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