Isau, Ralf - Neschan 03
zu mir. Eigentlich hätte ich schon darauf kommen müssen, als ich sah, wie die meisten der fünf Hüter an ihren Steinen klebten und wie machtlos sie nach deren Verlust waren.«
»Leider haben meine verlorenen Brüder bisweilen einen sehr unnatürlichen Hang sich an stoffliche Dinge zu binden, seien es Menschen, Tiere, Pflanzen oder sogar Steine.« Ein Lächeln erschien auf Michaels Gesicht und er fügte hinzu: »Ich werde dich nun verlassen.«
»Darf ich noch eine letzte Frage stellen?«, warf Yonathan schnell ein.
Michael nickte.
»Wie lautet der neue Name dieser Welt?«
»Du kennst ihn bereits, Yonathan.«
»Welt des Trostes?«
»So ist es. Meschelem sei ihr Name auf ewig. Und nun lebe wohl, Yonathan.«
»Lebe wohl, Michael.«
Die leuchtende Gestalt verblasste, und ehe Yonathan einfiel, dass er noch nach seinen Gefährten und vielem mehr fragen wollte, war sie auch schon verschwunden.
Ein halbe Meile unterhalb des Baumes entdeckte Yonathan eine schlanke Gestalt, die im Gras saß und offensichtlich in Gedanken versunken war. Er beschleunigte seinen Schritt und ging direkt auf den Mann zu. Wenigstens bin ich nicht der Einzige, der diesen ersten Tag Meschelems erlebt, dachte er bei sich.
Als er das Gesicht des anderen erkannte, tat sein Herz einen Sprung. Das letzte Stück des Weges rannte er.
»Sethur, du lebst!«
Der einstige Vertraute Bar-Hazzats sprang auf. Auch er strahlte vor Freude.
»Ja, irgendwie«, sagte er lachend. »Ich habe schon auf dich gewartet, Yonathan.«
»Sind die anderen ebenfalls da? Gimbar, Yomi, seine Eltern…?«
»Ich habe ihr Lager unten am Wasser gesehen, an der Stelle, wo früher mein Haus stand. Aber dann dachte ich, es sei besser auf dich zu warten.«
»Wie lange sitzt du bereits hier?«
»Ich weiß nicht. Zwei, drei Tage.«
Die Antwort kam Yonathan seltsam vor. Aber wer konnte schon wissen, welchen Gesetzen die Zeit in dieser neuen Welt gehorchte? Neschan existierte nicht mehr und Meschelem war eine neue Schöpfung mit – wenn er das überraschende Auftauchen Sethurs betrachtete – vielen neuen Aspekten. Der Tod in seiner früheren Form existierte nicht mehr. Aber er befürchtete nicht, ein endloses Dasein in Gleichförmigkeit und Langeweile zubringen zu müssen. Das Universum war zu groß, die Schöpfung zu vielfältig, das Leben zu schön, um nicht immer wieder neue Dinge zu entdecken oder sich an bekannten, lieb gewonnenen stets aufs Neue zu erfreuen.
Yonathan lachte; es war ein befreites, von tiefer Freude getragenes Lachen. Dann hieb er Sethur mit aller Kraft auf die Schulter und sagte: »Ich glaube, wir sollten unsere Freunde nicht länger warten lassen.«
Epilog
Glückliche Augenblicke gab es viele während Yonathans Reise zurück nach Cedanor. Am Ufer des Gewässers, an dem einst Temánahs Hauptstadt Gedor gelegen hatte, traf er seine Freunde wieder. Aber nicht nur sie: Viele Menschen, deren Herzen sich nicht dem bösen Geist Bar-Hazzats gebeugt hatten, lagerten hier und schmiedeten Pläne für die Zukunft.
Die fröhliche Atmosphäre schlug nur für eine kurze Zeit in Aufregung um, als Galal auftauchte. Das Traumfeld trug die Gefährten auf das offene Meer hinaus, wo noch immer die Weltwind wartete. Kaldek und die übrige Besatzung waren froh, dass sie die Weltentaufe überstanden hatten. Auch sie wussten nicht mehr, wann sie wieder erwacht waren, erinnerten sich nur an den gigantischen Wirbel, der den Himmel und alles Licht erfasst und sie in einen dunklen Schlund hinabgerissen hatte. Nun konnte jeder den Frieden spüren, der die neue Welt Meschelem bedeckte wie ein feines weißes Vlies.
Einige Wochen später erreichten sie endlich die Perle Baschans. Cedanor leuchtete in der Sonne wie eh und je. Aber die Stadt erschien nun leer. Viele Menschen waren zurückgekehrt auf das Land, zu den Wohnstätten ihrer Vorfahren.
Trotzdem säumte noch eine große Menge den Weg der Gruppe von Reitern, die sich dem Sedin-Palast näherte. In Windeseile hatte sich die Nachricht von der Rückkehr des siebten Richters herumgesprochen und der Jubel eilte den Gefährten voraus. Während Yonathan den Palastberg hinaufritt, konnte er seine Ungeduld kaum noch zügeln. Als er dann schließlich in das tunnelartige äußere Tor der dicken Festungsmauer eintauchte, sah er am anderen Ende des Durchgangs eine einzelne kleine Gestalt stehen. Sie war zart und anmutig, weites, lockiges Haar floss über die zierlichen Schultern.
Nichts hielt Yonathan mehr auf seinem
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