Isau, Ralf - Neschan 03
Herrschers sein, gerade hier, so nahe beim Berg. Es tut mir Leid. Wir können das Risiko nicht eingehen. Ihr müsst uns morgen verlassen.«
Sandai Yublesch-Khansib winkte einer Gruppe bewaffneter Krieger zu, die den »Gästen« helfen sollten ihr Nachtlager zu finden. Er wollte sich gerade wieder setzen, als Yonathans Stimme ihn davon abhielt.
»Einen Moment noch, Khansib.«
»Das Urteil ist gesprochen. Es gibt nichts mehr zu sagen.«
»Ich glaube doch.«
»Hüte dich davor, unser Gastrecht zu entehren…«
»Entschuldigt, wenn ich Euch unterbreche, Ehrenwerter Khan. Aber gibt es bei Euch nicht ein Gesetz, das jedem unbegrenztes Gastrecht gewährt, der Euren stärksten Mann in einem Wettstreit mit den Prachtdolchen besiegt?« Yonathan verharrte kurz und setzte dann um einiges förmlicher hinzu: »Wenn dem so ist, will ich diese Gunst für meinen Begleiter und mich erstreiten und wen immer Ihr erwählt zum Kampfe fordern.«
Der Khan zögerte. Er warf dem Sippenältesten – seinem eigenen Vater, der vor einiger Zeit die Führung an seinen Sohn abgetreten hatte – einen fragenden Blick zu.
Der Greis ergriff selbst das Wort. »Ihr kennt Euch in unseren Sitten und Gebräuchen erstaunlich gut aus, junger Mann.« Der Alte hatte kaum noch Zähne im Mund und war sehr schwer zu verstehen. »Die Prachtdolche sind das Symbol unserer Ehre. Wer den Dolchkampf verliert, büßt auch seine Ehre ein, und er kann sie nur zurückgewinnen, indem er dem Bezwinger unbegrenzte Gastfreundschaft gewährt. Das Sippengesetz verlangt, dass bei dem Zweikampf kein Blut vergossen wird. Wer es dennoch tut, hat verloren. Nur die Geschicktesten werden sich überhaupt auf einen solchen Wettstreit einlassen.«
Der alte Mann fand offenbar Gefallen an dem Thema, denn nun begann er sämtliche Regeln und Ausnahmen aufzuzählen, durch die einer der beiden Kämpfer entweder disqualifiziert oder zum Sieger werden konnte.
»Sind das ähnliche Spielchen wie die, bei denen man eine Tischplatte demoliert, indem man eine Messerspitze zwischen die gespreizten Finger hackt?«, erkundigte sich Gimbar leise bei Yonathan.
»Du scheinst dich ja in diesen Dingen gut auszukennen.«
Gimbar zuckte die Schultern. »Die Winternächte in Kartan waren oft sehr eintönig.«
Yonathan musste unwillkürlich an ein Erlebnis aus seiner Kindheit auf der Erde denken. Als kleiner Junge hatte er einmal im Zirkus einen bärtigen Mann bestaunt, der eine ganze Batterie von Messern auf eine hübsche Dame warf und dem es, wie er sich damals wunderte, trotz seiner offensichtlichen Geschicklichkeit kein einziges Mal gelang, sie zu treffen. Die Dame schien darüber nicht unglücklich gewesen zu sein.
In diesem Moment war der Stammesälteste bei einer Regel angekommen, die Yonathan bereits erwartet hatte: »… darf der Herausforderer entweder seinen Gegner oder die Art des Wettstreits bestimmen…«
»Wenn Ihr erlaubt, Ehrwürdiger«, unterbrach er den Monolog des Alten, »möchte ich festlegen, wie und mit welcher Waffe die Partie ausgetragen werden soll.«
»Nun denn, so sei es!« Khan Yublesch hatte sich das Wort zurückerobert und erntete dafür einen wütenden Blick seines Vaters. Eine offizielle Herausforderung konnte er gemäß den Stammesgesetzen nicht ablehnen, auch wenn er sich von Yonathan überrumpelt fühlte. »Morgen früh zur zweiten Stunde soll entschieden werden, wer geschickter mit dem Dolch umgehen kann. Bis dahin werden wir unsere Gäste in ihrem Zelt beschützen.« Der Sippenführer blickte Yonathan direkt ins Gesicht, als er in leise drohendem Ton hinzufügte: »Und solltet Ihr gewinnen, dann werdet Ihr diesen Schutz weiterhin genießen, bis Ihr seiner überdrüssig werdet und freiwillig weiterzieht.«
»Was hat er damit gemeint, er will uns ›beschützen‹, solange wir bei ihnen sind?«
»Das ist doch nun wirklich nicht schwer zu verstehen, Gimbar.« Yaminas Tadel klang beinahe echt. »Wenn Geschan gewinnt, dürft ihr zwar bei der Sippe bleiben, aber seid trotzdem nicht frei. Sie trauen euch beiden nicht. Deshalb werden sie euch auf Schritt und Tritt begleiten.«
»Na, das sind ja rosige Aussichten!«
»Es wäre schön, wenn du mich nicht immer Geschan nennen würdest, Yamina.« Yonathan hatte die Inspektion des geräumigen Zeltes abgeschlossen und sich nun wieder seinen Freunden zugewandt.
»Aber du bist doch Geschan.«
»Das stimmt schon, doch gibt es zu viele Ohren, die mit diesem Wissen nur Unheil anrichten würden – nicht hier natürlich,
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