Isau, Ralf
woher willst du wissen, was er denkt?«
»Der Nox und der Lux sind auch ein Paar, die sich ergänzen. Die schwarze Hand ist das einzige Mittel, die gebundenen Bücher wieder aus den verfinsterten Perlen zu befreien. Gmork weiß, dass wir das wissen und alles daransetzen werden, um die Perlen zurückzugewinnen. Vielleicht hat sein falscher Kollek-Tibe die eine Perle sogar mit Absicht hier zurückgelassen, damit Thaddäus oder ich sie finden. Sieh selbst!« Karl deutete auf Die Gewogenen Worte, die Herr Trutz immer noch in der Hand hielt.
Aus den grünen Augen des Drachenmädchens quollen Tränen. Wortlos sah sie ihn an, und ihr beschwörender Blick, ihre flehentliche Miene waren ein einziges verzweifeltes Nein!
GMORKS TOR
Ja, seine Entscheidung sei mutig und wahrscheinlich auch richtig, sagte Thaddäus, nachdem ihn sein Nachfolger auf die Seite genommen und unter vier Augen um seine Meinung gebeten hatte. Auf Karls Frage, was ihn erwarten werde, wenn er Gmork folge, wusste der alte Meisterbibliothekar allerdings auch keine klare Antwort zu geben. »Mit Sicherheit eine Pforte in die Äußere Welt.« Es gebe viele solcher Türen, die nach Phantásien führten und auch wieder hinaus. Jeder müsse seinen eigenen Weg finden, und ein Tor, das sich dem einen öffne, mag dem anderen verschlossen bleiben. Solch ein Abgewiesener könne es zwar zerstören, es, wie ja von Gmork versucht, mit Feuer verbrennen, aber selbst niemals hindurchgehen. Wie er dann Gmorks Pforte benutzen solle, wollte Karl noch wissen. Herr Trutz hatte mit einem säuerlichen Lächeln erwidert: »Hoffen wir, dass die Unaussprechlichen keine Hermetiden vor ihre fünf Türen postiert haben.« Mit diesen vagen Aussichten und mit vollen Manteltaschen hatte sich Karl auf die Suche nach dem Werwolf begeben. An seinem Handgelenk befand sich der yskálnarische Kompass. Der Stengel des andrusischen Vergissmeinnicht leuchtete in der Dunkelheit und wies ihm den Weg. In seiner rechten äußeren Manteltasche steckte in weißer Umhüllung aus Einhornhaar eine schwarze Hand. Den gläsernen Gürtel trug er unter dem Jackett. Auch das Magieskop hatte Karl dabei, obwohl es ihm in seinem derzeitigen Zustand kaum nützlich sein konnte. Er vermisste schmerzlich sein Schwert. Zugegeben, es war ein wenig launisch gewesen. Sein Träger musste schon bei einer Herausforderung überfordert sein, damit es sich herausziehen ließ, und man durfte es zudem nur im Kampf gegen echte Bösewichter um Unterstützung bitten. Aber dann war es im besten Sinn des Wortes Feuer und Flamme gewesen. Bei einer Auseinandersetzung mit Gmork hätte es Karl bestimmt nicht den Dienst versagt. Mit Ausnahme des Unaussprechlichen konnte er sich im Moment keine boshaftere Kreatur vorstellen.
Kurz vor Mitternacht hatte Karl die Phantásische Bibliothek durch einen Hinterausgang verlassen. In seinem Geist hallten noch immer Qutopías letzte Worte nach: »Ich bin es leid, immer um diejenigen zu bangen, die ich liebe. Erst wirft diese ekelhafte Seuche meinen Vater aufs Krankenbett, und jetzt begibst du dich in Lebensgefahr. Sei vorsichtig, Karl. Mit dem Werwolf ist bestimmt nicht zu spaßen.«
Nein, das war wirklich nicht anzunehmen. Diejenigen, die ich liebe. Warum hatte Qutopía das ausgerechnet in dieser Situation sagen müssen? Sie liebt mich. Der Gedanke beflügelte ihn, aber er nahm ihm auch einiges von seiner neu erworbenen Unbekümmertheit. Habe ich je so etwas besessen?, fragte er sich. Jedenfalls wollte auch er das Drachenmädchen wiedersehen. Welche Chancen hatte eine Liebe, durch die eine Grenze zwischen zwei Welten verlief? Er schüttelte ärgerlich den Kopf und murmelte: »Konzentrier dich, Sportsfreund. Vor dir liegt die größte Herausforderung deines Lebens.«
Es war empfindlich kühl. Ein rauer Wind ließ das Gras wie einen Ozean wogen. Über der Landschaft lag ein silbernes Licht, das die Spuren der Krankheit verwischte, die auch hier, im Umkreis des Bücherturms, die Natur befallen hatte. Über der Phantásischen Bibliothek hing der Vollmond. In manchen Regionen der Inneren Welt schien er offenbar jede Nacht. So konnte sich Karl hinlänglich sicher bewegen.
Der Kompass führte ihn über eine sanft ansteigende Wiese zu einer Hügelkette, die im Mondlicht wie eine in mehreren Windungen aus dem Wasser ragende Seeschlange aussah. Das Versteck Gmorks konnte nicht allzu fern sein, denn auf seine Fragen hatte Herr Trutz von mehreren Mitarbeitern der
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