Isau, Ralf
Koreander würde das Tor schon finden. Er konnte sich hier unten nicht verlaufen. Sollte er nur noch ein wenig suchen, seinen Kopf anstrengen. Das würde ihm die Illusion vermitteln, mit eigenem Scharfsinn und dank eigener Entschlusskraft: den Weg in die Äußere Welt gefunden zu haben. Für kurze Zeit durfte er sich ruhig wie ein Held vorkommen, sich an dieser Vorstellung berauschen. Um so leichter wäre er nachher zu überwältigen.
∞
Der Baum sah irgendwie merkwürdig aus. Eigentlich waren es sogar zwei Stämme, die sich ein Stück über dem Boden zu einem einzigen vereinten. Dadurch sah das bizarre Gewächs wie ein stiller Riese aus, der reglos auf der Weide stand, als hielte er Wache. Es war jedoch nicht so sehr seine seltsame Gestalt, die Karl grübeln ließ. Er brauchte einen Moment, bis er darauf kam, was an ihm nicht stimmte. Das Gras im Umkreis war besonders hoch – als hätten die Wollwandler es aus einem unbekannten Grund verschmäht –, und es wogte im Wind. Aber der Baum bewegte sich nicht im Geringsten. Selbst seine wenigen Blätter hingen steif an ihren Ästen. Wie versteinert.
Für einen Moment sah Karl die gelbgrünen Augen unter dem Baum aufleuchten, dann war der Wolf verschwunden. Der Kompass ließ keine Zweifel aufkommen. Gmork hatte sich nicht hinter dem Baum davongestohlen, er musste unter dem erstarrten Riesen verschwunden sein. Oder er lauerte noch im hohen Gras.
Vorsichtig näherte sich Karl dem Baum. Bald reichten ihm die Halme bis zur Hüfte. Dann hatte er den Bannkreis – genauso kam ihm diese Grasbarriere vor – durchbrochen und stand vor dem Riesenbaum. Er legte seine Hand auf die Rinde und zog sie rasch wieder zurück. Die knorrige Haut dieses Triftbewohners war kalt wie ... Stein?
Karl reckte sich nach einem tief hängenden Ast. Knack! Plötzlich hielt er ein Blatt in der Hand. Der dünne versteinerte Stengel war abgebrochen. Ungläubig betastete er es, um dann wieder zur Baumkrone aufzublicken. Der einsame Riese war tot.
Einmal mehr blickte Karl auf seinen Kompass. Die grün schimmernde Nadel zeigte genau auf den Baum. Zur Sicherheit umrundete er die beiden dicken Stämme, die wie Beine aus dem Erdreich ragten. Die Kompassnadel drehte sich geduldig mit, zeigte immer in die Mitte des von ihm abgeschrittenen Kreises. Jedes Mal wenn sie auf den dunklen Spalt zwischen den stämmigen Beinen deutete, erbebte sie heftig. Karl ging ein paarmal hin und her, bis er sicher war, dass nicht er selbst durch ängstliches Zittern das Vergissmeinnicht vibrieren ließ.
Irrtum ausgeschlossen. Nach mehreren Versuchen machte er sich mit dem Gedanken vertraut, in diesen Spalt zwischen den Stämmen hinabzusteigen, der so dunkel wie der Rachen eines Drachen war und in den man selbst bei Tageslicht vermutlich nicht einmal mit Blicken vordringen könnte. Alles in ihm sträubte sich dagegen. Es erforderte schon eine gehörige Portion Kühnheit – oder Dummheit –, diese Höhle leibhaftig zu erkunden.
Wachsam, jeden Moment mit einem Angriff des Wolfes rechnend, trat Karl zwischen die Beine des Riesen. Einen Moment lang schwankte er zwischen Hoffen und Bangen. Einerseits wünschte er sich, das Tor der Stämme wäre auch schon die Tür in die Äußere Welt. Andererseits fürchtete er sich vor der Konfrontation mit Gmork, die dort unweigerlich auf ihn wartete, und hoffte insgeheim, dass sie sich zumindest noch ein wenig hinausschieben ließ. Er spähte in die dunkle Tiefe.
Der Baum selbst war nicht die Pforte zwischen den Welten. Karl sah unter sich ein überraschend großes Loch, das zwischen armdicken Wurzeln hindurch ins Erdreich führte. Obwohl ihm von dort ein unangenehmer Geruch entgegenschlug, atmete er erleichtert auf und kletterte vorsichtig hinab.
Als er den Grund des Lochs erreicht hatte, war aus dem Geruch ein bestialischer Gestank geworden. Er kannte derartige Ausdünstungen von den Raubtieren im Zoo, aber nie zuvor hatte er sie so überwältigend empfunden. Ein neugieriger Abenteurer, der bis hierher vorgedrungen war, konnte nichts Klügeres tun, als umzukehren und die Flucht zu ergreifen. Eine durchaus verlockende Überlegung, fand auch Karl.
Vor sich glaubte er einen Tunnel auszumachen, aber selbst das Licht des Vollmondes schien sich nicht weiter vorzuwagen. Der Gang war finster wie das Innere eines Ofenrohrs. Karl wurde schmerzlich bewusst, dass er keine Lampe mitgenommen hatte. Was sollte er tun? Wer konnte schon wissen, wie weit es noch bis zum Tor war? Wäre es
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