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Isau, Ralf

Isau, Ralf

Titel: Isau, Ralf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerry
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Bibliothek immer wieder die gleiche Antwort bekommen. »Der große Wolf? Ja, den haben wir schon öfter hier gesehen.« Die Wollwandlerhirten hätten nie einen Verlust ihrer Tiere beklagt, sich sogar im Gegenteil durch die Gegenwart des großen Wolfs vor anderen Räubern sicherer gefühlt. So habe niemand dem grauen Jäger mit den glühenden Augen besondere Beachtung geschenkt. Auf die Idee, ihn mit dem Verschwinden der Bücher in der Bibliothek in Verbindung zu bringen, war natürlich erst recht niemand gekommen.
    Inmitten der Wiese stieß Karl auf einen Weg, nicht viel mehr als ein Trampelpfad. Der yskálnarische Kompass bedeutete ihm unmissverständlich, der sich im Mondlicht dunkel abzeichnenden Spur zu folgen. Mit einem Mal ruckte die Nadel so heftig nach links, dass er unwillkürlich erschrak. Als er den Kopf drehte, sah er auf einer nahen Anhöhe die schwarze Silhouette des Wolfs. Die glühenden Augen waren direkt auf ihn gerichtet.
    Einige flache Atemzüge lang wagte er nicht, sich zu rühren. Du bist unsichtbar, rief er sich in Erinnerung, blickte aber trotzdem zum Boden hinab. Nein, im Moment konnte er sich auch nicht durch niedergetretenes Gras verraten. Der Weg bestand aus festgestampfter Erde. Aber dann fiel ihm ein, welches das empfindlichste Organ der Wölfe ist: die Nase.
    Ob er den Mann riechen konnte, der sich ihm näherte? Karl atmete tief durch. Und wenn schon! Das war ja schließlich der Sinn der Übung.
    ∞
      
    Der Mensch bewegte sich wie ein Anfänger. Gmork grinste wölfisch. Obwohl der Bibliothekar nicht zu sehen war, hatte er sich durch seine Fußstapfen im Gras verraten. Später folgte er zwar dem Pfad, den die Hirten mit ihren Wollwandlern regelmäßig benutzten, aber dafür stank er zehn Meilen gegen den Wind. Koreander hielt es ja nicht einmal für nötig, auf die Luftströmungen zu achten. Ob er den Nox dabeihatte? Sein eigenes Herz konnte Gmork nicht wittern. Zu allem Übel war es auch nicht zu sehen, weil das dumme Menschlein sich unsichtbar gemacht hatte. Gmork beschloss, die Jagd zu eröffnen.
    Er drehte sich um und trottete den Hang hinab. Gleich würde Koreander ihn aus den Augen verlieren und musste ihm über die Wiese folgen – mit einer großen, gut sichtbaren Fährte.
    Wenig später sah Gmork wie erwartet hinter sich die Fußstapfen, die wie von allein den Abhang hinabstürmten und das verdorrte Gras platt trampelten. Dieser Narr war sogar noch dümmer als vermutet. Oder steckte Absicht dahinter? Immerhin hatte Koreander es geschafft, Xayídes Spiegelbild den Nox abzujagen. Gmork empfand eine gewisse Wesensverwandtschaft mit der Magierin vom Schloss Hórok, auch wenn er nicht verstehen konnte, warum sie ihr Revier mit aller Macht auf ganz Phantásien ausdehnen wollte. Er hätte sich mit einem hübschen Wald begnügt, in dem er jagen und den er sein Zuhause nennen durfte. Wie auch immer, Koreanders Wankelmut machte ihn unberechenbar. Gmork beschloss, kein unnötiges Risiko einzugehen.
    Nach einer kurzen Wanderung durch das welke Gras erreichte er den versteinerten Zwillingsbaum, der wie ein einsamer Riese auf der Wollwandlerweide stand. Vor Jahrhunderten war eine Kolonie Quarzotteln über ihn hergefallen. Die haarfeinen Würmer verwandelten mit ihren Körperausscheidungen jede Pflanze, an der sie sich gütlich taten, zu Stein. Sogar einige Blätter waren auf diese Weise, ehe sie abfallen konnten, an den Ästen erstarrt. Die Hirten mieden solche Bäume. Ihren Schatten zu berühren brachte nach ihrer Vorstellung Unglück. Sie hielten die Steinbäume für Wohnsitze von Geistern und bösen Wesen. Nicht ganz zu Unrecht, dachte Gmork und konnte sich ein weiteres Wolfsgrinsen nicht verkneifen. Die abergläubische Furcht der Hirten kam ihm zupass. Bisher hatte niemand sein Geheimnis entdeckt.
    Geduldig vergewisserte sich der Werwolf, dass Koreander ihm weiterhin folgte. Ja, die Fußstapfen bewegten sich noch durch das hohe Gras. Der Mensch musste etwas besitzen, das ihn führte, einen magischen Gegenstand oder vielleicht den yskálnarischen Kompass, von dem Täuschel berichtet hatte, der Wechselbalg, der sich einmal zu viel hatte entdecken lassen. Gmork schlüpfte in den Eingang unter den versteinerten Wurzeln.
    Rasch lief er durch den unterirdischen Tunnel. Er musste noch etwas Wichtiges erledigen, bevor das Vergnügen kam. Die Unaussprechlichen würden nicht erbaut sein, wenn er ihnen seine Dienstverpflichtung aufkündigte. Aber er wusste, wie er sie gnädig stimmen konnte.

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