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Isau, Ralf

Isau, Ralf

Titel: Isau, Ralf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerry
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seinen Kopf in den Durchgang und spähte nach vorn. Nahe beim Schaufenster, das von der Straßenlaterne schwach erhellt wurde, bewegte sich eine hünenhafte Gestalt wie ein zum Leben erweckter Scherenschnitt. Karl glaubte zu Eis zu erstarren. Unfähig, sich zu rühren, folgte er dem Schemen mit seinem Blick. Der Mann schien etwas zu suchen, genau dort, wo vorhin noch der Sessel gestanden hatte.
    Das Vermächtnis des Herrn Trutz!
    Karl presste sich den Aktendeckel an die Brust, den er mit ins Kabinett genommen hatte. Sein Verdacht jagte ihm schon genug Schrecken ein, aber in ihm regte sich eine Vermutung, die ihm das Blut in den Adern stocken ließ: Er möchte wissen, wer seinen Anschlag vereitelt hat. Er sucht den Namen auf der Generalvollmacht. Er will MICH!
    Als hätte Karl diese Gedanken laut geschrien, wandte sich der Schemen dem Durchgang zum Kabinett zu. Zwei runde, gelblich grüne Punkte glommen in der Dunkelheit. Sie schwebten hin und her, als suchten sie irgendetwas – oder irgendjemanden. Dann verharrten sie. Karl hatte das Gefühl, direkt angestarrt zu werden, und verlor die Nerven.
    Er schrie, als hätten die Augen des Eindringlings seinen Mantel in Brand gesteckt. Es interessierte ihn auch nicht, dass der unheimliche Fremde herumfuhr und mit einem unglaublichen Satz durch den leeren Türrahmen nach draußen verschwand. In panischem Schrecken flüchtete Karl tief in die geheime Bibliothek des Thaddäus Tillmann Trutz hinein.
    ∞
       
    An einem Bücherregal lehnend, umgeben von einer nach Pfefferminz riechenden Wolke, war Karl für den Rest der Nacht damit beschäftigt, seine Ohren aufzusperren, um nach verdächtigen Geräuschen zu lauschen. Was hatte er sich da nur eingebrockt! Zum wiederholten Mal blickte er auf seine Taschenuhr und haderte mit dem trägen Minutenzeiger. Das nötige Licht lieferte ihm ein fünfzehnbändiges Werk mit dem Titel Wechselwirkungen von Feld-, Wald und Wiesenkräutern im Schaffensprozess von Literaten. Es leuchtete grün.
    Um acht – draußen musste es mittlerweile hell werden – wagte er sich aus seinem Versteck. Im Laden war alles unverändert. Bis auf eine Kleinigkeit. Jemand hatte die wie mit dem Lineal gezogene Glassplitterspur verwischt.
    Karl zwang sich, systematisch nachzudenken. So schwer es ihm fiel, er musste einige Entscheidungen fällen. Wenn er das Antiquariat sich selbst überließ, würde Herr Trutz ihn am Ende noch haftbar machen. Bereits eine Viertelstunde später hatte Karl einen Plan gefasst und wurde aktiv.
    Als Erstes bat er Frau Holle, bis zu seiner baldigen Rückkehr den Laden im Auge zu behalten. Das tue sie sowieso, lautete ihre Antwort, und er machte sich ein wenig zuversichtlicher auf den Weg zum nächsten Polizeirevier. Dort erstattete er stellvertretend für Thaddäus Tillmann Trutz Anzeige gegen unbekannt. Der Diensthabende schien nicht sonderlich begeistert. In der letzten Nacht seien überall Fenster zu Bruch gegangen, der Ordnungsapparat sei restlos überfordert. Als Karl trotzdem im Namen seines Arbeitgebers auf einer polizeilichen Ermittlung bestand, verlangte der Beamte eine Vollmacht. Karl zeigte ihm das vom Buchhändler aufgesetzte Papier.
    »Die ist aber nicht unterschrieben«, brummte der Polizeibeamte.
    »Herr Trutz hat sein Geschäft gestern Abend überstürzt verlassen. Er wird diese Formalität unverzüglich nachholen.«
    »Trotzdem kann ich Ihre Angaben nur als Zeugenaussage zu Protokoll nehmen, aber nicht als Anzeige namens des Geschäftsinhabers bearbeiten. Tut mir Leid, Vorschriften sind Vorschriften.«
    »Ich weiß.« Karl seufzte. Wie oft hatte er diese Floskel schon gehört!
    Nachdem der Beamte sein Formular zerrissen und ein anderes ausgefüllt hatte, durfte Karl unterschreiben. Anschließend begab er sich zu einem Schreiner, den er beauftragte, die beschädigte Eingangstür mit einer Holzplatte behelfsweise zu reparieren. Dann endlich suchte er den im Vermächtnis von Herrn Trutz bezeichneten Notar auf.

    ∞
       
    Die Kanzlei von Doktor Harribald Windig lag im Hochparterre eines ehrwürdigen Mehrfamilienhauses mit Gipsputten über dem Portal und einem hellgrauen Marmoraufgang. Die Räume waren so gut wie lückenlos mit Nussbaumholz und dicken Teppichen ausgekleidet, wodurch eine Atmosphäre der Gediegenheit entstand, die unwillkürlich auf die in ihnen arbeitenden Menschen ausstrahlen musste. Die Vorzimmerdame des Notars war ein Fräulein Schmitz. Karl schätzte sie auf Mitte fünfzig. Nachdem er sein Anliegen

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