Isau, Ralf
keiner sinnvollen Äußerung mehr fähig schien.
»Und der wäre?«, fragte Karl.
»Ich kenne meinen Klienten, Herrn Trutz, ein halbes Leben lang, das schließt auch seine krakelige Schrift ein, von der er uns hier eine Kostprobe zurückgelassen hat. Ihr Name auf dieser Generalvollmacht ist authentisch, Herr Koreander, von der Hand meines Klienten geschrieben, dafür verbürge ich mich. Unser vergesslicher Freund hat mich schon vor einigen Jahren als Sachwalter eingesetzt, um während seiner häufigen Reisen seine geschäftlichen Interessen zu wahren. Kraft dieser Verantwortung bin ich befugt, Sie vorübergehend mit der Geschäftsführung des Antiquariats zu betrauen.«
»Vorübergehend?«, wiederholte Karl wie im Traum. Er ahnte, dass es da noch einen Haken gab.
»Nun ja, bis Sie die Unterschrift beigeholt haben.«
»Ach so. Und wie viel Zeit geben Sie mir dafür?«
»Nicht ich, Herr Koreander. Auch diesen Fall hat Herr Trutz in seine äußerst ausführlichen Anweisungen aufgenommen.
So verschroben er manchmal auch erscheinen mag, so detailversessen kann er sein.«
»Wem sagen Sie das!« Zedernholzmöbel in der Veranda der Wohnung einmal jährlich einölen ...
»Um auf Ihre Frage zu antworten: Die kommissarische Führung des Antiquariats ist Ihnen von dieser Minute an für sieben Tage übertragen. So viel Zeit räumt Ihnen Herr Trutz ein, um ›die Legitimation‹, wie er es nennt, beizubringen.«
»Die unterschriebene Vollmacht. Und was ist, wenn er eine Weltreise auf einem Dampfer angetreten hat?«
Doktor Windig griff nach einem dicken schwarzen Füllfederhalter, der vor ihm auf der grünen Schreibunterlage lag, und während er langsam den Deckel abschraubte, antwortete er: »Vielleicht können Sie ihn noch einholen. Aber das ist, so leid es mir tut, nicht mein Problem, Herr Koreander. Ich befolge nur die Anweisungen meiner Klienten.« Und er notierte auf einem Zettel:
Dienstag, 8. November 1938, 11.58 Uhr plus 7 Tage
Der Notar ließ die Notiz in seiner eigenen Trutz-Akte verschwinden und reichte Karl die Dokumentenmappe über den Schreibtisch zurück. »Viel Glück, Herr Koreander.«
Der frisch gebackene kommissarische Geschäftsführer nahm sie eher lustlos entgegen. »Danke.«
»Ich meine es ernst«, bekräftigte Doktor Windig.
Karl nickte. »Ja, das fürchte ich auch.«
ALPHABETAGAMMA
Den Traum vom eigenen Antiquariat konnte er wohl begraben. Karl gab sich da keinen Illusionen hin. Er hatte noch nie etwas Vernünftiges auf die Beine gestellt, warum also gerade jetzt? Nachdem er mit einem flauen Gefühl in der Magengegend zum Buchladen zurückgekehrt war, hatte er als Erstes die Unordnung beseitigt. Während er noch die Glasscherben zusammenkehrte, kam der Schreinermeister mit seinem Gesellen und reparierte die Tür; innerhalb einer Stunde war der Schaden wenigstens provisorisch behoben.
Karl bezahlte die Handwerker aus der nicht gerade üppig gefüllten Registrierkasse.
Danach zog er sich ins Kabinett zurück, setzte sich in den Ohrenbackensessel und nahm sich noch einmal die Dokumentenmappe vor. Grimmig starrte er auf die »formaljuristisch wertlose« Generalvollmacht und versank in tiefes Nachdenken. Dabei übermannte ihn der Schlaf. Plötzlich fuhr Karl in die Höhe wie eine Marionette, an deren Fäden ein unsichtbarer Puppenspieler zog. In seinem Kopf strahlte eine Idee, die ihn unwillkürlich schmunzeln ließ. Sie war etwas sonderbar, aber nicht ganz abwegig, wenn man die Kauzigkeit des Ladenbesitzers zugrunde legte. Vielleicht hatte sich Herr Trutz das ganze Versteckspiel als eine Art Probe ausgedacht? Sie sind phantasievoll... haben Mut zu ungewöhnlichen Entscheidungen. Größere Herausforderungen schrecken Sie nicht. Der Wortlaut der Stellenanzeige verriet ja, woran dem Alten gelegen war.
Karls Blick wanderte über die bunt illuminierte Bücherparade. Ruhig atmete er die von unterschiedlichsten Düften geschwängerte Luft ein. Womöglich hatte Herr Trutz tatsächlich irgendwo eine Nachricht versteckt. Einen Hinweis, den es mit Phantasie, Mut und Entscheidungskraft zu deuten galt. Karl verdrängte den Gedanken an seine Unzulänglichkeit und begann zu suchen.
Abermals drang er tief in die geheime Bibliothek des Thaddäus Tillmann Trutz ein. Dabei folgte er buchstäblich seiner Nase. Unangenehme Gerüche ließ er links liegen, wohlriechende unterzog er einer genaueren Beurteilung. Er las die bisweilen reichlich bizarren Buchtitel
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