Isau, Ralf
und fragte sich, ob in ihnen geheime Botschaften versteckt sein mochten. Nach einer Weile – er musste schon seit Stunden auf der Suche sein – hörte er ein fernes Wimmern.
»Herr Trutz?«
Keine Antwort. Das Weinen hielt an.
»Herr Tru-uuutz!«
Wer immer da klagte, er hatte keine Ohren für sein Rufen. Karl folgte dem Geräusch. Je näher er ihm kam, desto abgrundtiefer schien die Seelennot des Weinenden. Die Stimme klang auffallend piepsig. Wenn sie Herrn Trutz gehörte, dann musste er Helium eingeatmet haben. Karl durcheilte ein Zimmer nach dem anderen, ohne noch länger auf die wechselnden Gerüche oder auf die leuchtenden Bücher zu achten. Beim Betreten eines weiteren Raumes stieg der Geräuschpegel deutlich an. Karl war sich ganz sicher, dass von hier das Klagen kam. Aber er konnte niemanden sehen.
Der Gedanke, dass er eine Stimme verfolgt hatte, die keinen Körper zu besitzen schien, war einigermaßen beunruhigend. Am liebsten wäre er umgedreht und geflohen, aber bedrohlich klang die Stimme eigentlich nicht. Also suchte er weiter nach der Quelle des Zeterns und Schreiens, grenzte das Gebiet auf ein Regal ein, und dann sah er ihn.
Auf einem rot leuchtenden Buch saß ein Wicht und heulte sich die Augen aus dem Kopf. Das winzige Männchen trug eine spitze gelbe Mütze und sah ein bisschen wie ein Bleistift mit Armen und Beinen aus. Kaum größer als ein solcher, war es in einen grünen, wie Lack glänzenden Anzug gehüllt.
Allerdings konnte es so etwas nun wirklich nicht geben. Daran zweifelte Karl keine Sekunde lang. Jammernde Bleistifte! Absolut unmöglich. Er musste träumen. Vorhin war er eingenickt und dachte nur, dass er sich auf Herrn Trutzens Schnitzeljagd eingelassen hätte. In Wirklichkeit hing er immer noch im Ohrenbackensessel und würde beim Aufwachen über einen steifen Hals klagen. Andererseits – die Idee, nach Hinweisen des Buchhändlers zu suchen, war, selbst wenn nur im Schlaf ersonnen, gar nicht so übel. Manchmal fuhren auch Träume zum Ziel. Irgendwo hatte Karl das erst kürzlich gelesen. Er beschloss, sich auf das verrückte Spiel einzulassen.
»Entschuldigen Sie, wenn ich störe«, sagte er zu dem Wicht.
Der reagierte nicht, sondern plärrte weiter.
»He, du da!«, rief Karl energisch – in wachem Zustand hätte er sich das nie getraut, nicht mal bei einem sprechenden Bleistift.
Der Wicht verstummte. Er zuckte zusammen, hielt sich zwei winzige Händchen wie zur Abwehr eines bösen Zaubers vor das Gesicht und starrte zwischen den noch winzigeren Fingerchen aus stecknadelkopfgroßen schwarzen Augen auf den Riesen vor seiner spitzen Nase. Dann wurde das Gesichtchen streng. »Was hast du denn hier zu suchen?«
»Das könnte ich dich ebenso gut fragen.«
»Ich war aber zuerst dran.«
Träume können manchmal ziemlich albern sein! Karl holte tief Luft. »Na schön, du komischer Wicht. Mein Name ist Koreander. Ich bin der kommissarische Geschäftsführer von Thaddäus Tillmann Trutz.«
»Dem Meisterbibliothekar?«
»Diesen Titel hat er in meiner Gegenwart noch nie benutzt.« Hat ja auch wenig Gelegenheit dazu gehabt . »Dürfte ich jetzt endlich erfahren, mit wem ich die Ehre habe zu konvenieren?«
»Du redest ganz schön geschwollen. ›Kommissarischer Geschäftsführer!‹ ›Konversieren!‹ Was hat der ehrenwerte Thaddäus sich nur dabei gedacht, so einen wie dich auszusuchen?«
Das frage ich mich allerdings auch. »Und du? Hat er dich auch eingestellt?«
»Selbstverständlich hat er mich berufen. Schon vor langer Zeit. Ich bin Alphabetagamma, der dienstälteste Gehilfe in der Phantásischen Bibliothek sowie die rechte Hand ihres ehrwürdigen Meisterbibliothekars Thaddäus Tillmann Trutz. Und im Übrigen bin ich kein Wicht, sondern ein Bücherdrill.«
»Natürlich. Was denn sonst?« Dieser Traum wird ja immer toller! »Und warum flennst du so? Ist das bei euch Drillen so üblich?«
»Bücherdrill!«, stellte das Männlein richtig und verfiel unvermittelt wieder in wehleidige Stimmung. »Ich liebe Bücher.«
»Ich auch. Darauf scheint Herr Trutz bei seinen Mitarbeitern ja großen Wert zu legen. Aber das ist doch kein Grund
zum Heulen.«
»Wenn sie verschwinden, schon.«
»Bei aller Liebe, aber in einer Bibliothek kommt so etwas nun mal vor. Jemand bringt ein Buch nicht rechtzeitig zurück oder er stiehlt es einfach oder ...«
»Die Phantásische Bibliothek ist keine Leihbücherei«, grollte der Bücherdrill.
»Die was?«
»Die Phantásische
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