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Isau, Ralf

Isau, Ralf

Titel: Isau, Ralf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerry
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Staunen. Er stand wiederum in einer Felsenkammer, allerdings einer, die sich von der vorhergehenden unterschied wie die Nacht vom Tag. Der Raum war vollkommen. Eine riesige Kugel hätte hier vermutlich Boden, Decke und alle sechs Wände berührt, so harmonisch wirkten seine Proportionen. Ja, er war sechseckig, wie die Spiegelwabe im Haus der Erwartungen, aber deutlich größer. Karl schätzte, dass drei oder vier Männer seines Kalibers wie im Zirkus Schulter auf Schulter stehen müssten, damit der oberste die Decke berühren könnte.
    Nach dem Durchschreiten des Opals hatte er sich unter dem Bogen eines Alkovens wiedergefunden, von denen es reihum noch fünf weitere gab. Ihre mehr oder weniger stark durchscheinenden Rückwände bestanden aus weißem Bergkristall, blauem Lapislazuli, rotem Almandin, tiefgrünem Malachit und schwarzem Gagat. So jedenfalls hatte ihm Albega diesen Raum beschrieben, während er sich von Karl zum Fuß der Phantásischen Bibliothek hinuntertragen ließ. Karl blickte nach oben. Unter der Decke befand sich ein sechseckiges Loch, bedeckt von einer Art Käfig aus goldenen Streben, in dem die Sprossen einer Leiter zu erkennen waren. Das Gitter diente als Aussichtsplattform, in seltenen Fällen auch als Zugang in die lichte Kammer, die einen der kostbarsten Schätze Phantásiens beherbergte: die Wissende Druse.
    Das Ei stand mitten in der Kammer, und seine Ausmaße waren gewaltig. Karl schätzte seine Höhe auf drei Meter. Die Außenhülle war weißgrau – soweit sich dies im farbigen Schein der Wabenwände beurteilen ließ – und so uneben wie der Rauputz an einer Hauswand. In Brusthöhe sah er ein großes Loch. Die Innenwand des steinernen Hohlkörpers war dicht an dicht mit violettfarbenen Kristallen bedeckt. Karl fühlte sich wie magisch von der Druse angezogen. Darin hatte der Legende nach ein schiffbrüchiger Seemann Die verlorene Unschuld entdeckt, das erste Buch der Phantásischen Bibliothek, eine steinerne Tafel, die hier unten gehütet wurde wie die Kronjuwelen des englischen Königshauses im Tower von London. Karl beugte sich über den Rand des Lochs, um im Ei nach der Steintafel zu suchen – und erschauerte.
    Sie war nicht da! Statt einer beschrifteten Platte sah er nur eine absolut lichtlose Leere. Das Nichts! Gmork hatte das wertvollste Buch der Bibliothek gestohlen! Die Erkenntnis traf ihn wie ein Keulenschlag. Er entsann sich nur allzu gut der Worte Albegas: Eine Prophezeiung sagt, Die verlorene Unschuld werde irgendwann vom Angesicht Phantásiens verschwinden, und dann müsse es neu erschaffen werden. Ich mag mir lieber nicht vorstellen, was passieren würde, wenn die Leere auch in die Wissende Druse Einzug hält
    »Jetzt ist es geschehen«, flüsterte Karl. Sein Mund war trocken. Er glaubte versteinern zu müssen wie der Baum auf der Wollwandlertrift. Die Entführung der Verlorenen Unschuld konnte nur eines bedeuten: Gmork suchte die Entscheidung. In dieser Nacht! Er wollte den Willen des Fünfgesichtigen Gogam erfüllen und sich dann mit seinem Herzen aus dem Staub machen, in irgendeine andere Welt. Oder er würde – was viel schlimmer wäre – als entfesselter Erzlump in Phantásien und der Äußeren Welt nach Belieben sein Unwesen treiben. Das musste um jeden Preis verhindert werden.
    »Wo ist das Tor?«, murmelte Karl und sah sich um. Vermutlich hinter einem der übrigen fünf Alkoven. Er schob den Mantelärmel zurück, blickte auf den Kompass und schritt die Nischen ab, aber das Vergissmeinnicht zeigte immer auf ihn selbst. War das yskálnarische Wunderding etwa kaputtgegangen, ausgerechnet jetzt, im wichtigsten Moment?
    Schlagartig wurde ihm klar, wo sein Denkfehler lag. Die Kompassnadel zeigte nicht auf ihn, sondern durch ihn hindurch. Auf die Wissende Druse.
    Wieder trat Karl vor die gezackte Öffnung, die selbst ungefähr die Form eines Eies hatte. Kopfschüttelnd betrachtete er die dunkle Leere im hinteren Teil des Hohlraums. Sollte das Nichts etwa das Tor sein? Er begann zu zittern. Was für eine schauerliche Vorstellung! Albega hatte ihn einmal eindringlich gewarnt, irgendwelche Körperteile auch nur in die Nähe der Leere zu bringen. Um sich hineinzustürzen, war diese hier allerdings viel zu klein. Aber der yskálnarische Kompass zeigte unmissverständlich in das Ei.
    Karl beugte sich noch weiter vor, um die Innenwände der Druse betrachten zu können. Und dann fiel es ihm auf. Die violetten Kristalle zu seiner Linken sahen verschwommen aus, fast so, als

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