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Isau, Ralf

Isau, Ralf

Titel: Isau, Ralf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerry
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Schlag versetzen, von dem er sich so bald nicht wieder erholen würde. Karls Augen schweiften fieberhaft durch die Rumpelkammer. Hinter den Stühlen entdeckte er eine schwarze Hutschachtel. Genau das, was er brauchte. Er huschte durch den Raum und kehrte mit dem großen runden Karton zurück. Um seine Anspannung in den Griff zu bekommen, schöpfte er noch ein paarmal tief Atem. Dann stieß er sachte die Tür auf.
     
      
      
      
     
DER LUX
     
    Bücherbolde galten gemeinhin als ungeschlachte Wesen, deren Verstand leicht überstrapaziert werden konnte. In der Phantásischen Bibliothek waren sie gleichwohl wertvolle Helfer für allerlei einfache Dienste. Lector machte da keine
    Ausnahme. Äußerlich glich er, wie übrigens alle seine Artgenossen, einem großen Muskelprotz im blau eingefärbten Fell
    eines Gorillas. Er war ungefähr anderthalbmal so hoch wie der Meisterbibliothekar, etwa doppelt so schwer und ein Hundertstel so schlau. Über einen Hals verfügte Lector nicht.
    Vorzugsweise kleidete er sich in kurze Lendenschurze aus goldener Fischhaut, damit sein seidiges koboldblaues Fell und die Muskeln gebührend zur Geltung kamen. Anzumerken ist vielleicht noch, dass Lector nie las.
    Er war zum Wachdienst abkommandiert. Der ehrenwerte Thaddäus persönlich hatte ihn mit dem Schutz der Drusenwabe betraut. Wenn sich jemand an Die verlorene Unschuld zu schaffen mache, dann solle er ihn breit klopfen. So lautete die Anweisung des Meisters. Lector hatte sie bereits nach dreimaliger Wiederholung verstanden.
    Als er in die Gewölbe unter der Bibliothek geeilt war, hatte er sich seinen kleinen Kopfüber den Grund für die plötzliche Betriebsamkeit zerbrochen. Überall schwirrten Buchfalter herum, wuselten Bücherdrille umher, schnatterten Leseratten oder zischelten Brillenschlangen. Nachrichten wurden überbracht, Posten bezogen und Gerüchte ausgetauscht. Der ganze Turm war ein einziges Tohuwabohu. Lector konnte sich das alles nicht erklären. Aber jetzt genoss er die Stille in der Juwelenkammer. Er saß im Käfig über der Wissenden Druse und bewunderte das Farbenspiel in den verschiedenen Alkoven. Für ihn gab es keinen schöneren Ort als diesen. Hier herrschte Friede ...
    Unvermittelt hörte er ein Geräusch, das ihm alle Haare zu Berge stehen ließ, was bei einem Bücherbold einen reichlich grotesken Anblick ergibt – sie sehen dann aus wie überdimensionierte blaue Staubwedel. Lector lauschte. Nach wenigen Augenblicken kehrte der lang gezogene, dunkel hallende Laut wieder. Wie bei Bücherbolden üblich, hatte auch Lector ein großes, besonders weiches Herz. Für ihn hörte es sich so an wie ein abgrundtief trauriges Weinen. So als würde die Phantásische Bibliothek selbst ein großes Unrecht beklagen.
    ∞
      
    Als der Laut zum ersten Mal den himmelstürmenden Bücherturm erzittern ließ, fuhren im Arbeitszimmer des Meisterbibliothekars sämtliche Köpfe hoch.
    »Was war das?«, fragte Qutopía.
    »Hörte sich an, als käme es irgendwo aus dem Gebäude«, meinte Alphabetagamma.
    Herr Trutz schüttelte langsam den Kopf. Sein Gesicht war wie versteinert. »Nicht aus dem Turm, Griffelchen. Das Klagen kommt von ihm.«
    Das Drachenmädchen starrte den Bibliothekar voll dunkler Ahnungen an. »Was wollen Sie damit sagen, Meister?«
    »Hören Sie es denn nicht, meine Liebe? Die Phantásische Bibliothek windet sich im Todeskampf.«
    ∞
      
    Lector hatte das Gefühl, dass der Bücherturm über ihm schwankte wie eine Pappel im Sturm. Und jedes Mal, wenn er dieses tiefe Reißen, dieses Knarren und Heulen hörte, richteten sich seine Körperhaare erneut auf. Insofern war der Bücherbold ein sehr empfindlicher Anzeiger für den Zustand der Bibliothek. Leider schenkte ihm niemand Beachtung. In seinem kleinen Verstand wälzte er die Frage, ob er seinen Posten über der Wissenden Druse verlassen und Meldung machen oder lieber hier bleiben und auf eine Zuspitzung der Lage warten sollte. Er war kein großer Freund von Veränderungen, also beschloss er zu bleiben.
    Unvermittelt hörte er über sich ein neues Geräusch, eine fipsige Stimme, noch höher als die der Bücherdrille. Auf seiner platten Nase landete ein Buchfalter.
    »Lector!«, piepste der Bibliotheksbote.
    »Hier, Torkelmund!«, antwortete Lector. Die beiden kannten sich.
    »Der ehrenwerte Thaddäus schickt mich.«
    »So?«
    »Ja. Es muss etwas Schreckliches geschehen sein.«
    »Ach.«
    »Hast du dieses Geräusch etwa noch nicht

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