Isau, Ralf
Phantásischen Bibliothek!
Nun, das war nicht eindeutig erwiesen. Er müsste schon mit dem Magieskop nach Spuren der eingesperrten Werke suchen, was aus begreiflichen Gründen nicht ging. Doch was sonst sollten diese Perlen sein? Gmork hatte die Wissende Druse ausgeraubt. Wenn Die verlorene Unschuld nicht binnen kurzem an ihren angestammten Platz zurückkehrte, dann würde Phantásien untergehen. Nachschub an schwarzen Perlen war also unnötig, zumal in diesen Mengen. Es musste sich um bereits gebundene Werke handeln.
Mit einem Mal blieb Karls Blick an einem der Kartons hängen, denen er vorher keine weitere Beachtung geschenkt hatte. Er öffnete ihn und fand darin Briefumschläge. Hunderte. Nein – er entdeckte weitere in den anderen Kisten – es mussten Tausende sein. Alle Kuverts waren bereits frankiert und mit einer Adresse versehen, Empfänger in aller Herren Länder. Und dann bemerkte er auf dem Tisch noch etwas, das seiner Aufmerksamkeit bisher entgangen war: ein kleines weißes Porzellanschüsselchen, in dem sich zwei oder drei Dutzend schwarzer Perlen befanden. Daneben lag ein kleiner Stapel Umschläge.
Karl blinzelte verwirrt. Gmork will die eingeschlossenen Bücher verschicken? Warum nur? Unvermittelt lichtete sich das dunkle Gewölk in seinem Geist, und er begriff das ganze infame Ausmaß von Gmorks Plan. Oder hatte der Fünfgesichtige diese Vorgehensweise angeordnet? Wer auch immer, jedenfalls sollten die ungeschriebenen Bücher in alle vier Winde zerstreut werden. Sie würden die Dekolletes mehr oder weniger hübscher Damen schmücken oder in den Schatullen von Sammlern verschwinden, die sich im Verborgenen an ihrem Anblick weideten. Ihr eigentlicher Wert musste dadurch unweigerlich zunichte werden. Kein Mensch würde die ungeschriebenen und zerstörten Werke je lesen können. Nie mehr würden sie andere befruchten, sie bereichern, ihnen Hoffnung schenken oder sie zu neuen Horizonten der Erkenntnis führen ...
Ein Rumpeln ließ Karl hochschrecken. Sein Kopf flog herum zu einer Tür, direkt gegenüber dem Dornenrahmen. Von dort war das Geräusch gekommen. Dann hörte er, wie eine andere Tür ins Schloss fiel. Er lauschte, aber keine Schritte waren zu hören. Es war also niemand gekommen. Gmork musste gegangen sein. Karl konnte sein Glück kaum fassen. Wenn er die Perlen durch den blinden Spiegel nach Phantásien zurückbringen konnte, dann wäre viel gewonnen. Vielleicht ließ sich sogar der Spiegel, dieses Tor nach Phantásien, zerstören. Es war das vorletzte von ursprünglich fünf, über die Gmork einst verfügt hatte. Damit wäre er fürs Erste außer Gefecht gesetzt.
Um kein Risiko einzugehen, schlich Karl als Erstes zur Tür. Die Dielen knarrten unter seinen Füßen. Er lauschte. Aus dem Nachbarraum war nicht der kleinste Laut zu vernehmen. Vorsichtig drückte er die Klinke hinab. Obwohl er die Tür äußerst behutsam und nur um eine Armeslänge zum Nebenzimmer hin öffnete, quietschte sie wie unter schärfstem Protest. Eine trockene Hitze schlug ihm entgegen. Der angrenzende Raum lag in tiefer Dunkelheit, abgesehen von einer gleißend weißen Hand, die vor ihm in der Luft zu schweben schien. Der Lux! Rasch schlug Karl die Tür wieder zu.
Was er gesehen hatte, hing trotzdem noch vor seinem inneren Auge, und er erschauerte. Diese völlige Dunkelheit! Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass nicht allein Vorhänge oder vernagelte Fenster die Ursache der Finsternis nebenan sein konnten. Nur der Lichtstein konnte seiner Umgebung derart radikal alle Helligkeit entziehen. Sogar die Rumpelkammer war fur einen Augenblick dunkler geworden.
Dank der Erklärungen des Meisterbibliothekars, die sich Karl ins Gedächtnis rief, war ihm einigermaßen klar, was da vor sich ging. Nox und Lux spiegelten jene »Dualität« wider, die ein Grundprinzip von Phantásiens Natur war. Aber auch in anderen Welten ließ sie sich beobachten. Die weiße Hand war das genaue Gegenteil der schwarzen. So wie im NoxGewölbe unter dem Schwarzen Elfenbeinturm gleißende Helligkeit geherrscht hatte, waltete hier Finsternis. Der Lux machte alles dunkel und schwarz. Auch weiße Perlen.
Karls Herz raste. Er wollte die einmalige Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Gmork hatte offenbar das Nebenzimmer, vielleicht sogar die Wohnung verlassen. Selbst wenn er überraschend zurückkehrte, konnte er seinen ungebetenen Gast ja nicht sehen. Alles sprach dafür, den Lux mitzunehmen. Damit ließe sich dem Werwolf ein
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