Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Isau, Ralf

Isau, Ralf

Titel: Isau, Ralf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerry
Vom Netzwerk:
das?«
    »Ohne Unterschrift auf dieser – wie hieß das doch gleich?«
    »Generalvollmacht«, knurrte Karl.
    »Ja, richtig. Ohne die bist du geliefert.«
    »Und wenn ich aufwache und alles war doch nur ein böser Traum?«
    »Lies das Postskriptum auf dem Brief des ehrenwerten Thaddäus, dann hast du die Antwort.«
    Karl schwante etwas Schreckliches: Er musste eine Entscheidung treffen. Wenn dies ein Traum war, dann konnte er sich schlimmstenfalls zu einem Alptraum entwickeln – grässlich zwar, aber mit dem Aufwachen käme auch die Rettung. Angenommen jedoch, er unterhielt sich tatsächlich mit einem phantásischen Bücherdrill, dann war diese Suchexpedition vermutlich die einzige Möglichkeit, die Generalvollmacht von einem »formaljuristisch wertlosen Fetzen Papier« in einen erfüllten Wunschtraum zu verwandeln.
    Er atmete tief durch. »Nur mal angenommen, ich versuche der Spur des Meisterbibliothekars zu folgen ...«
    »Ich wusste, dass der ehrenwerte Thaddäus sich in dir nicht geirrt hat.«
    »Noch habe ich nicht ja gesagt. Zuerst musst du mir erklären, warum noch niemand auf die Idee gekommen ist, nach Herrn Trutz zu suchen. Er hat doch einen unmissverständlichen Hinweis hinterlassen. Da ...« Karl deutete auf den Brief und zuckte zusammen. »Die Schrift löst sich auf!«
    Albega marschierte vom Aktendeckel zum Rand des Pergaments, stemmte die Fäuste in die Seiten und sah belustigt der Tinte beim Verblassen zu. Als kaum noch etwas zu entziffern war, erklärte er: »Da hat ihm wohl ein Tintendrache geholfen.«
    »Wie bitte?«
    »Tintendrachen werden nicht größer als eine Taube und haben unzählige Feinde. Wenn sie sich bedroht fühlen, stoßen sie ein flüssiges, himmelblaues Pigment aus, das in der Luft verdampft und sie vorübergehend umfärbt. Dadurch werden sie praktisch unsichtbar, solange der Habicht, oder wer immer auf sie Jagd macht, nach ihnen Ausschau hält. Wenn die Gefahr gebannt ist, löst sich die Farbe wieder auf. Mit Hilfe einiger Zusätze kann man aus dem Pigment der Drachen eine famose Zaubertinte herstellen, die sich auflöst, kurz nachdem der rechtmäßige Empfänger die Mitteilung gelesen hat.«
    Karl musste diesen Ausflug in die phantásische Fauna erst verdauen, bevor er auf seine Frage zurückkommen konnte. »In dem unmissverständlichen Hinweis, der nun leider nicht mehr lesbar ist, war von einem ›Haus der Erwartungen‹ die Rede. Warum habt ihr dort nicht nach ihm gefragt?«
    »Für wie dumm hältst du uns eigentlich? Obwohl es uns eher unwahrscheinlich erschien, dort einen brauchbaren Hinweis zu finden, haben wir eine Abordnung zu der alten Hexe geschickt, aber ...«
    »Eine Hexe? Etwa die von Hansel und Gretel?«
    »Willst du dich über mich lustig machen?«
    »Nein. Entschuldige. Sprich weiter.«
    »Hallúzina meinte, der Meisterbibliothekar sei tatsächlich bei ihr gewesen, aber da sie ihm nicht helfen konnte, habe er sich unverrichteter Dinge wieder auf den Weg gemacht.«
    »Das ist schon alles?«
    »Normalerweise ist die alte Vettel eine Expertin im Deuten von Beweggründen, aber in diesem komplizierten Fall war sie wohl machtlos.«
    »Und dann?«
    »Haben wir Suchtrupps in alle Himmelsrichtungen ausgesandt – kein ganz leichtes Unterfangen, weil sich die in Phantásien ständig ändern –, aber keiner hat auch nur eine Spur von ihm gefunden.«
    Karl schob sich die Brille zurecht, blickte auf das leere Pergament, rieb sich das Kinn. Schließlich seufzte er und verkündete: »Also gut. Ich versuch's.«
      
      

      
     
     
     
ZUM GREIFEN NAH ...
     
     
    Karl trat erwartungsvoll durch die Tür ins Freie – und taumelte sogleich wieder zurück. Während er sich mit dem Rücken an die Fensterwand drückte, spähte er atemlos in die Tiefe. Ein böiger und überraschend kühler Wind zerzauste sein Haar. Das Arbeitszimmer des Meisterbibliothekars lag in schwindelnder Höhe – nein, es schwebte. Karl stand auf einem halbrunden Balkon mit beängstigend niedriger Brüstung, und über oder neben ihm waren keinerlei Mauern zu sehen. Jenseits des Sprossenfensters gab es nur Luft und ein paar schwarze Vögel mit leuchtendblauen Schnäbeln, die vor seiner Nase einige Schleifen flogen und ihn dabei neugierig zu mustern schienen.
    »Puh, ist das hoch!«, stöhnte er.
    Albega saß nun auf seiner Schulter, denn Karl hatte den Aktendeckel auf dem Schreibtisch zurückgelassen. Nur die Generalvollmacht steckte zusammengefaltet in der Brusttasche seines Wintermantels. Der

Weitere Kostenlose Bücher