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Isau, Ralf

Isau, Ralf

Titel: Isau, Ralf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerry
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Augen zu öffnen. Ja, was dort vor ihm auftauchte, musste Land sein – es sei denn, in Phantásien gab es Gebirge aus Wasser. Eindrucksvoll erhob sich nämlich ein gigantisches Massiv vor seinen Augen. Unter dem riesigen Vollmond schimmerte es wie dunkles Metall. Je näher sie den Bergen kamen, desto wirklicher wurde dieser Eindruck. Wie schwarze Krallen reckten sich ihm schroffe Gipfel entgegen. Und dann dieses furchterregende Geräusch, das zu ihm heraufdrang: dunkel wie Donnergrollen und zugleich bedrohlich wie das Knurren einer angriffslustigen Bestie.
    »Die Brüllenden Berge«, hauchte Karl und der Flugwind entriss ihm sogleich die Worte, zum Glück, denn sonst hätte Huschhusch dort womöglich zur Landung angesetzt.
    Wieder musste Karl gegen Müdigkeit und Erschöpfung ankämpfen. Wie weit es wohl noch bis zum Haus der Erwartungen war? Zum Greifen nah sich herunterbeugend, suchte er ein wenig Schutz vor dem eiskalten Wind und nickte abermals ein. Der riesengroße Mond verfolgte gleichmütig ihren Flug.
    Doch nicht nur er.
    Plötzlich wurde Karl von einem markerschütternden Schrei geweckt. Alles um ihn herum drehte sich. Verschwommen nahm er tief unter sich einen Wald wahr – die Brüllenden Berge lagen also bereits hinter ihnen. Dunkle Bäume stürzten auf ihn zu ... Nein, diesmal war es eindeutig der Greif, der vom Himmel fiel. Huschhusch gab besorgniserregende Laute von sich, ein Gurgeln, als hätte sie ein Pferd verschluckt. In Karls Kopf tobte ein Gewitter, tausend Gedanken schössen wie Blitze durcheinander. Was war mit seinem Flugtier passiert? Hatte irgendein Zyklopenfalke Huschhusch im Flug verletzt? Wer konnte schon wissen, welche Gefahren in Phantásien lauerten? Konnten Greife einen Herzinfarkt kriegen ...?
    Sich krampfhaft im Nacken der Adlerlöwin festkrallend, schrie Karl beruhigend auf sie ein – anders konnte man es nicht nennen. »Halt durch, mein Mädchen! ... Jetzt nicht schlappmachen! ... Immer schön die Flügel ausbreiten und mit dem Schwanz steuern!... Du segelst wunderbar!... Gleich haben wir's geschafft! ...«
    Obwohl Huschhusch hörbar litt – sie stöhnte, röchelte und würgte –, blieben Karls Beschwörungen nicht ohne Wirkung. Sie mobilisierte letzte Kraftreserven, um ihren Herrn nicht zu enttäuschen. So sind Briefgreife nun mal. Trotzdem sollte ihr keine weiche Landung gelingen. Als sie die Wipfel der mächtigen Bäume streifte, verlor sie endgültig die Kontrolle und stürzte samt Reiter hilflos in die Tiefe.

    ∞
       
    »Wo gesungen wird, da lass dich nieder, böse Menschen kennen keine Lieder.« Skrzat kicherte und setzte sein Summen fort. Er war ja kein Mensch, sondern ein Waldschrat, weshalb der alberne Reim wohl nicht auf ihn zutraf. Er wollte böse sein. Das war seine Bestimmung. Damit erfreute er seinen Herrn. Außerdem hatte sein Lied keine Worte. Und nur einen einzigen Ton.
    Aufmerksam suchten seine Luchsaugen den nächtlichen Himmel am Waldsaum ab. Der Vollmond erleichterte ihm diese Aufgabe, wenngleich er seinen Wachdienst bei allen Lichtverhältnissen zuverlässig verrichtete. Schrate sehen selbst bei völliger Finsternis.
    Und dann entdeckte er sie.
    »Wieder ein Greif!«, jubilierte er leise und nahm eine Pfeilviper aus seinem Korb. Die Giftschlange konnte die meisten phantásischen Geschöpfe innerhalb kürzester Zeit töten. Bei einem so großen Tier wie einem Briefgreif reichte das Gift gewöhnlich nur für eine mehr oder weniger lange Betäubung aus. Das letzte Mal, als Skrzat eine Pfeilviper abgeschossen hatte, war er dem torkelnd niedergehenden Adlerlöwen über den ganzen Wald des Vergessens hinweg nachgeflogen. Fast wäre die Jagd schief gegangen und er hätte seinen Herrn enttäuscht – selbst für einen Waldschrat keine angenehme Vorstellung. Aber diesmal würde er keinen Fehler machen. Sein Herr würde zufrieden mit ihm sein und ihm die versprochene Belohnung geben: ein grenzenloses Reich. »Kaiser Skrzat«, kicherte der Waldschrat. »Hört sich nicht schlecht an!«
    Nachdem er die erstarrte Schlange auf den Bogen gelegt hatte, zielte er gründlich. Wenn er das Herz des Greifs traf, würde das Tier wie ein Stein vom Himmel fallen. Als der Greif genau vor der Mondscheibe war, ließ Skrzat die Sehne los. Die Viper zischte davon.
    »Könnte mir keine bessere Zielscheibe denken«, kicherte der Schrat. Einige Herzschläge lang verfolgte er den majestätischen Flug des Greifs, und Neid stieg in ihm auf. Wenn er sich durch die Lüfte bewegte, dann

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