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Isau, Ralf

Isau, Ralf

Titel: Isau, Ralf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerry
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Schmetterlingsflügeln ausgestattete Männchen davongeflattert war, ließ er sich wieder von Karl tragen; er hatte also die Einladung zum »Mitkommen« nicht unbedingt wörtlich gemeint. Normalerweise lebten die meisten Bibliotheksmitarbeiter am Turm, berichtete der Bücherdrill auf dem Weg nach unten und deutete auf runde Ausbuchtungen, die an der Außenwand klebten und wie Schwalbennester aussahen. Diese Behausungen finde man in den unterschiedlichsten Größen, abhängig von der Zusammensetzung des Mitarbeiterstabs. Neben Bücherdrillen arbeiteten in der Bibliothek auch Leseratten, Bücherbolde, Brillenschlangen, Bücherwürmer und ein paar Angehörige anderer phantásischer Völker wie etwa die Gemeine Majuskel oder auch die Flinke Minuskel. Einige dieser Namen seien ihm wohl bekannt, warf Karl ein, wenngleich er darunter bisher etwas anderes verstanden habe. Albega zeigte sich darüber wenig verwundert. Es gebe einen ständigen Austausch zwischen der Äußeren Welt und Phantásien, in beide Richtungen, da schnappe der eine leicht etwas vom anderen auf.
    Endlich verließen sie die Schneckenrampe und traten vor den Bücherturm. Aus der Ameisenperspektive sah er noch kolossaler aus.
    Karl ließ den Blick in die nähere Umgebung der Phantäsischen Bibliothek schweifen. Sie stand mitten auf einer runden Wiese und war eng von knorrigen alten Bäumen umringt. Er vermisste etwas. »Wo sind die Wächter, die du erwähnt hast?«
    »Du stehst genau unter einem«, antwortete Albega von seiner Schulter her.
    »Ich sehe einen Baum, aber niemanden, der darin hockt und die Eingänge beobachtet.«
    »Der ›Baum‹, wie du ihn nennst, ist der Borkentroll.« Albega legte die Hände an den Mund und kreischte: »Guten Morgen, Knarz! Irgendwelche besonderen Vorkommnisse in der letzten Nacht?«
    »Nein«, ertönte eine tiefe Stimme, die wie ein im Sturm knarrender Baum klang. Der Borkentroll sprach ausgesprochen langsam, was das Zuhören für Karl zu einer Geduldsprobe machte. »Alles in Ordnung hier unten. Kein Unbefugter hat die Bibliothek betreten oder verlassen.«
    »Danke, Knarz.«
    »Bitte schön, Alphabetagamma.«
    Weil der Borkentroll sich mit dem Aussprechen des Namens besonders viel Zeit ließ, widmete sich Karl nun der Betrachtung des weiteren Umfelds. Jenseits des kurz gemähten Wiesenrunds erhob sich eine Anhöhe. Darüber hinweg zog gemächlich ein Schwarm großer Laufvögel, die ihn an Strauße erinnerten. Hintendrein lief ein alter Mann mit knöchellangem Mantel, großkrempigem Hut und einem großen gebogenen Stab. Ein Hirte?, fragte sich Karl verwundert. Für diese Annahme sprach der große Hund, den er etwas abseits auf der Hügelkuppe im Schatten eines vereinzelten Baumes – oder Borkentrolls? – sitzen sah. Erst jetzt fiel Karl auf, dass die Laufvögel dem Anschein nach kein Feder-, sondern ein dichtes Fellkleid besaßen.
    »Wollwandler«, erklärte Albega, der sich inzwischen von Knarz verabschiedet und Karls Blick gedeutet hatte.
    »Ich vermute, ihr schert sie regelmäßig und macht Garn aus ihrem Pelz.«
    »Wie hast du das erraten!«
    Karl deutete erst zu dem alten Mann, dann zu seinem hechelnden Gehilfen. »Der Hirte dort und da drüben sein Hund – dieses Bild ist mir sehr vertraut.«
    Eine kleine Stille entstand, aus der sich Albegas besorgte Stimme schließlich wie ein rauer Fremdkörper erhob. »Das ist kein Hirtenhund. Das ist ein ... Wolf!«
    »Den Hirten scheint das nicht zu beunruhigen.«
    »Vermutlich hat er das Tier noch gar nicht bemerkt. Hast du gesehen, wie riesig es ist?«
    »Kann ich schwer einschätzen, weil mir das Terrain vor der Bibliothek nicht so vertraut ist wie... Was ist mit dir, Albega? Du wirkst mit einem Mal so verstört.«
    »Muss wohl daran liegen, dass ich es bin. In dieser Gegend hat es seit mindestens tausend Jahren keine Wölfe mehr gegeben, und wohl noch nie solche großen. Da, schau! Er macht sich aus dem Staub.«
    Der Wolf hatte sich erhoben und trottete über die Kuppe hinweg. Bevor er ganz dahinter verschwand, drehte er noch einmal den Kopf herum und blickte direkt in die Richtung seiner beiden Beobachter. Karl erschauerte. Angesichts der Distanz konnte er sich nur irren. Wie sonst war es zu erklären, dass er die Augen des Wolfes auf die Entfernung gelblich grün leuchten sah?

    ∞
       
    Albega hatte nichts davon wissen wollen, dass dem stellvertretenden Meisterbibliothekar die grünen Augen des Wolfes vertraut vorkamen. Menschenkinder könnten Tore von der

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