Isau, Ralf
nicht gerechnet, weil der Hold doch wohl fest verwurzelt war. Karl wartete. Aber keine knorrigen Finger kamen, um ihn zu befreien.
»Knarrr?«
»Ja?«
»Warum tust du dann nichts?«
»Ich denke nach.«
»Und worüber?«
»Als du vorhin vor Selbstmitleid fast zerflossen wärst, da hast du die Goldäugige Gebieterin erwähnt. Bist du ihr Diener?«
»Herr Trutz, der Meisterbibliothekar, hat mich ihr empfohlen, aber ich weiß nicht, ob sie mich berufen wird. Mehr kann ich dir leider nicht sagen.«
Wieder entstand eine Pause, die kein Ende nehmen wollte. Karl fürchtete schon, der Wurzhold könnte eingeschlafen sein, aber dann verkündete Knarrr feierlich: »Wenn der ehrenwerte Thaddäus dich für vertrauenswürdig hält, dann will ich das auch tun.«
Nun geschah etwas, das Karl nicht ohne Sorge verfolgte. Die Borke in seinem Rücken begann sich zu bewegen. Knarrr zog sich zusammen und drehte sich. Seine Verrenkungen wurden von einem lauten Knarzen begleitet. Karl machte sich ernstlich Sorgen, der Wurzhold könne auseinander brechen. Mit einem Mal spürte er ein heftiges Ziehen in den Schultergelenken, ein trockener Knall ertönte, dann waren seine Hände frei.
»Wie hast du das gemacht, Knarrr?«
»Ich musste mich ganz schön verbiegen, um das Seil zu zerreißen, ohne dir die Arme auszurenken.«
Karl schluckte. »Das war sehr rücksichtsvoll von dir. Danke.«
»Keine Ursache.«
Rasch befreite sich Karl von den Fußfesseln. Dazu benutzte er sein altes, schon halb verrostetes Taschenmesser, das sich immer, eingeschoben in eine dünne Lederhülle, in seiner Hosentasche befand. Mühsam kämpfte er sich auf die Beine und lief zu Huschhusch. Ihr Herz schlug immer noch langsam, aber gleichmäßig.
»Dein Greif kommt wieder auf die Beine«, tönte es aus Knarrrs Richtung.
»Bist du sicher?«
»Ich kenne den Waldschrat und seine Waffen besser als er selbst. Unlängst ist ihm auch kein rechter Treffer geglückt.«
»Was? Er hat schon mal jemanden vom Himmel geholt?«
»Ja, den Meisterbibliothekar.«
Karl wäre vor Freude am liebsten in die Luft gesprungen. »Dann lebt Herr Trutz noch?«
»Das kann ich nicht sagen. Er ist ein wenig zu weit in den Wald geraten und hat nur mit knapper Mühe wieder herausgefunden.«
»War das an dieser Stelle?«
»Nein, auf der anderen Seite des Waldes.«
»Wie komme ich dahin?«
»Überhaupt nicht.«
»Was?«
»Wir Wurzholde nennen dieses Gehölz, an dessen Rand du dich befindest, Amneme. Es ist von ganz besonderer Art.«
»Ich weiß. Es ist der Wald des Vergessens. Dieser Skrzat hat mich vor ihm gewarnt.«
»Er wusste, wovon er sprach. Je tiefer du in den Wald eindringst, desto mehr verrennst du dich in deinem inneren Irrgarten.«
»Wie meinst du das?«
»Jedes Geschöpf mit Verstand benutzt seine Erfahrungen, seine Erinnerungen, um sich zu orientieren. Alles, was du dir vorstellen kannst, beruht darauf. Jetzt stell dir vor, ein Windstoß fährt in diesen Wald aus Wegweisern und macht Kleinholz aus ihnen. Dann bist du verloren.«
Obwohl Knarrr sehr bedächtig gesprochen hatte, brauchte Karl einen Moment, um die Erklärung zu verdauen. »›Wer sich darin verirrt, findet nie wieder hinaus‹«, wiederholte er leise die Warnung des Waldschrats.
Knarrrs Äste knarzten wie zur Bestätigung. »Wer vergisst, verläuft sich in sich selbst. Genau das passiert in diesem Wald.«
»Kann man drum herumgehen?«
»Ich bezweifle, ob du das vermagst. Auf der einen Seite grenzt Amneme an die Brüllenden Berge, deren Hänge so glatt sind, dass du schon eine Fliege sein müsstest, um daran emporzuklettern, oder ein Steinbeißer, um dich hindurchzufressen.«
»Und auf der anderen Seite?«
»Da liegt der Nimmerberg.«
»Und?«
»Der Nimmerberg ist eigentlich ein Schutthügel. Man nennt ihn auch die Bedenkenhalde. Es heißt, dort würden sämtliche Bedenken gesammelt, an denen in der Äußeren Welt irgendwelche Ideen gescheitert sind.«
Karl ging es wie ein Stich durchs Herz. Der Nimmerberg verdankte seine Existenz Menschen wie ihm: Experten im Verschleppen von Entscheidungen. Er entsann sich nur zu gut, wie er gerade erst Albega mit seinen Zweifeln an den Fähigkeiten der phantásischen Torwächter auf die Nerven gefallen war. Ihm schwante nichts Gutes, aber er fragte trotzdem: »Lässt sich diese Halde übersteigen?«
»Nie und nimmer.«
»Dachte ich mir.«
»Sobald du auch nur einen Fuß auf die Bedenkenhalde setzt, beginnt unter dir das Geröll abzurutschen. Du könntest
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