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Isau, Ralf

Isau, Ralf

Titel: Isau, Ralf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerry
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unter den schmachtenden Blicken des Königs sorgfältig ins Taschentuch eingeschlagen und weggesteckt hatte, führte Kumulus seine Gäste in einen anderen Bereich der Halle. Die Kompasse, erklärte er unterwegs, würden von den Yskálnari benutzt, um verirrte Schiffe im Nebelmeer wiederzufinden. Er blieb vor einer Art Tisch stehen, unter dessen durchsichtiger Platte sich ein flacher Kasten befand, in dem verschiedene Ausstellungsstücke lagen. Der König öffnete den Schaukasten, entnahm ihm das yskálnarische Wunderwerk und reichte es Herrn Trutz.
    Auf den ersten Blick sah der Kompass nicht ungewöhnlich aus: etwas größer als eine Streichholzschachtel, mit einem quadratischen Gehäuse aus dunkelbraunen Binsen, einem geflochtenen Riemenband aus demselben Material zur Befestigung am Handgelenk, einer Skala für die Gradeinteilungen und einem unruhig wackelnden Zeiger. Die Unterschiede fielen Karl erst bei genauerem Hinschauen auf.
    »Die Nadel leuchtet in der Dunkelheit. Sie besteht aus dem Stengel eines andrusischen Vergissmeinnichts«, erklärte Kumulus.
    »Das Ding kennt überhaupt keine Himmelsrichtungen«, murmelte Karl. »Nur da, wo sonst Norden ist, steht ein... Z?«
    »Z wie Ziel. Es würde keinen Sinn machen, sich an einer Himmelsrichtung zu orientieren, weil die sich in Phantasien ständig verändern. Aber der Kompass verfolgt beharrlicher als jeder Spürhund ein Ziel, das man ihm einmal gezeigt hat.«
    »Leider hat sich der Wechselbalg verabschiedet, ohne uns dazu Gelegenheit zu geben«, grunzte Herr Trutz.
    »Wer weiß«, erwiderte Kumulus mit einem geheimnisvollen Lächeln und winkte seine Gäste hinter sich her. Karl hatte Mühe, dem kleinen Wirbelwind mit seinem verletzten Fuß zu folgen. Als der quadratische schwarze Sockel vor ihm auftauchte, ahnte er, was der König vorhatte.
    »Die Tränen des halb so großen Moorkrokodils! Das ist genial, Hoheit!«
    Kumulus bedachte ihn mit einem resignierenden Blick. »Das Tier heißt ›Doppelt so großes Moorkrokodil‹. Aber das lernen Sie wohl nie.«
    »Verzeiht, Hoheit. Ist der falsche Sammelrabe irgendwo zu sehen?«
    Gemeinsam suchten sie die zweihundertsechsundfünfzig silbrigen Tropfen ab. Mit einem Mal sah Karl ein erstarrtes Spiegelbild des Dachs, auf dem deutlich der schwarze Vogel mit dem leuchtend blauen Schnabel zu erkennen war. »Da!«, schrie er, auf die betreffende Träne deutend.
    Kumulus zuckte zusammen und drohte: »Noch ein Wort in dieser Lautstärke und Sie bekommen Hausverbot.«
    »Wir wollten sowieso gleich gehen«, bemerkte Herr Trutz hörbar ungeduldig. »Beeilt Euch lieber, Majestät, bevor das Bild verschwindet.«
    Der König hielt den Kompass genau über die Träne. Jetzt erst sah Karl, dass sich ein kleines Loch – offenbar eine Justiervorrichtung – unter dem Z befand, die genau auf das anvisierte Ziel ausgerichtet werden musste. Die grüne Nadel bewegte sich zittrig mal hier-, mal dorthin. Mit einem Mal verschwand das Bild des verwandelten Wechselbalgs.
    »Hab ich's doch geahnt«, schimpfte Herr Trutz. »Ihr seid zu langsam gewesen, Majestät.«
    »Ich? Das ist gar nicht möglich.«
    »Aber das Spiegelbild ist weg. Jetzt zeigt die Träne die Unterseite des Kompasses – nicht sehr hilfreich, wenn Ihr mich fragt.«
    »Das ist ja wohl kaum ...«
    »Entschuldigt, wenn ich Euren Disput unterbreche«, drängte sich Karls Stimme dazwischen. »Aber die Nadel steht mit einem Mal still. Wie festgenagelt«
    Alle blickten auf den Kompass in der Hand des Monarchen. Es stimmte. Die Nadel zitterte nicht mehr. Kumulus drehte sich einmal um sich selbst. Der Zeiger blieb stehen, deutete stur in eine Richtung. »Sehen Sie. Es war nicht zu spät«, jubilierte der König.
    »Ihr meint, die Nadel zeigt jetzt genau auf den unechten Kollek-Tiben?«, vergewisserte sich Herr Trutz.
    »Das ist ja wohl der Zweck des Ganzen.«
    »Würdet Ihr uns Euren Kompass überlassen, Majestät? Nur leihweise, versteht sich.«
    »Sonst hätte ich Ihnen das kostbare Stück wohl kaum gezeigt. Aber sagen Sie niemandem etwas davon, sonst kann ich mich bald vor Briefen nicht mehr retten, in denen mich andere Sammler aus aller Herren Länder um Leihgaben anbetteln. Aber jetzt verschwinden Sie endlich und nehmen Sie Ihre Gewogenen Worte mit – ehe Wolkenburg ins Blutmeer stürzt.«

    ∞
       
    Der König verabschiedete sich am Ausgang des Kristallpalasts von seinen Gästen. Er müsse sich nun um die Krise kümmern. Damit entschwebte er brummend in einen langen Flur. Seine

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