Isau, Ralf
angespannt. Er war mit den Augen Karls Blick gefolgt und hatte den Vogel mit dem leuchtend blauen Schnabel offenbar ebenfalls entdeckt.
Auch Kumulus zeigte sich besorgt, wenngleich aus anderem Grund. »Das muss an der geringen Flughöhe der Stadt liegen. Sonst findet kein Vogel bis zu uns herauf. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der Piepmatz auf einem meiner Sammlerstücke gelandet...«
»Was haben Sie gesehen, Herr Koreander?«, wiederholte der Meisterbibliothekar eindringlich.
Karl war noch immer zu benommen, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Er vergrub beide Hände in den Manteltaschen, drehte sich abrupt um und starrte auf die Lupe, als könne er so das in sein Bewusstsein eingebrannte Bild wieder loswerden. Aber es gelang ihm nicht.
»Herr Koreander!«, verschaffte sich Herr Trutz zum dritten Mal Gehör. »Das Magieskop – was hat es Ihnen gezeigt?«
Endlich hob Karl den Kopf und sah den Alten an. Er fröstelte. »Ein Kind.«
»Sind Sie sicher? Beschreiben Sie es genauer.«
»Es kauerte wie ein Vogel auf einer der Stangen über uns: nackt, vielleicht drei oder vier Jahre alt, irgendwie missgestaltet. Die Augen waren ungewöhnlich groß ...« Karls Stimme erstarb. Ein Schauer ließ seinen Körper erzittern.
»Welche Farbe hatten sie?«
»Violett. Ein leuchtendes Violett. Und sie waren böse. Das ganze Gesichtchen sah auf eine erschreckende Weise alt und boshaft aus.« Er schüttelte den Kopf. »Aber das muss ein Trugbild gewesen sein. Der Sammelrabe war ja viel zu hoch.«
Herr Trutz und Kumulus wechselten einen ernsten Blick. Dann nickten beide, und der König sagte: »Ein Wechselbalg.«
Karl stand der Sinn nicht nach Wortspielen, zumal wenn sie nicht ganz zutreffend waren. »Ich weiß, was ein Wechselbalg ist. Das da eben ...«
Der Bibliothekar entgegnete wie ein geduldiger Lehrmeister: »Sie müssen sich von verkrusteten Vorstellungen lösen, mein lieber Koreander. Hier in Phantásien tritt von vielem, was Sie in der Äußeren Welt genauestens zu kennen glauben, die verborgene Seite ans Tageslicht. Wechselbalge – bitte beachten Sie den phantásischen Plural! – sind Meister der Täuschung.«
Kumulus nickte. »Äußerst zwielichtige Wesen. Sie können jede Gestalt annehmen.«
»Das Magieskop hingegen hat Ihnen das wahre Äußere des Wechselbalgs gezeigt«, fügte Herr Trutz hinzu.
»Aber dann ...« Karl fasste sich an die Stirn. »Dann wissen wir doch schon ziemlich genau, wie die Bücher aus der Phantásischen Bibliothek verschwinden: Die Wechselbalge verwandeln sich in Kollek-Tiben und binden sie irgendwie an die schwarzen Perlen oder vielmehr sie sperren sie darin ein. Mit denen fliegen sie dann ...« Er verstummte.
Herr Trutz nickte wissend. »Sie haben's selbst bemerkt. Das freut mich.«
Karl ließ die Schultern hängen. »Die Sammelraben, ob falsch oder echt, sind phantásische Geschöpfe. Sie können nicht einfach in die Äußere Welt hinüberflattern und dort irgendwo die Perlen abladen.«
»So ist es. Die Wechselbalge sind gedungene Diebe, nichts weiter. Jemand anderer muss ihre Beute einsammeln und aus Phantásien herausschaffen. Aber wer?«
»Vermutlich derselbe, der uns den schwarz gefiederten Spitzel auf den Hals geschickt hat.«
Der König lächelte säuerlich. »Wer immer Ihr Gegner ist, Koreander, spätestens jetzt weiß er, was Sie wissen.«
Der Bibliothekar nickte. »Wenn man den falschen Sammelraben doch nur verfolgen könnte! Leider ist er vermutlich längst auf und davon.«
»Kein unlösbares Problem, wenn man einen yskálnarischen Kompass besitzt.«
Die zwei Männer wandten sich überrascht dem König zu. »Sagt bloß, Ihr habt so ein Instrument?«, fragte Herr Trutz.
»Ja, in meiner Sammlung. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«
»Prächtig! Zuerst muss Herr Koreander aber wieder die Perle an sich nehmen.«
Karl betrachtete argwöhnisch das dunkle Kügelchen auf seinem Taschentuch. Einerseits würde er es nur zu gerne wieder besitzen, doch andererseits war ihm die Gier, die das Perlending in ihm geweckt hatte, nicht geheuer.
»Nun vertrödeln Sie nicht den ganzen Tag, junger Freund«, drängelte Herr Trutz.
»Könnten nicht Sie ...?«
»Ich werde mich hüten. Meinen Sie, ich habe nicht gemerkt, was für eine Kraft von ihr ausgeht. Sie kommen damit schon zurecht. Und nun nehmen Sie endlich die Perle, damit Seine Majestät uns den Kompass zeigen kann.«
Widerstrebend gehorchte Karl. Nachdem er das kugelige Gefängnis der Gewogenen Worte
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