Isau, Ralf
bestaunte er den Namenszug, der in schwungvoller Schrift darauf angebracht war: Karl Konrad Koreander.
»Nun machen Sie ihn schon auf«, drängte Herr Trutz. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
Karl öffnete den Umschlag und entnahm ihm einen gefalteten Bogen schweres, handgeschöpftes Papier. Er hielt sich das Blatt unter die Nase. Es roch nach Frühlingswiese. Danach erst klappte er es auf und las:
BERUFUNG
Lieber Karl!
Ich berufe dich zum neuen Meisterbibliothekar der Phantásischen Bibliothek. Wenn du dieser Ernennung zustimmst, wirst du die Nachfolge des jetzigen Amtsinhabers antreten, sobald dieser seine Aufgaben an dich überträgt oder infolge widriger Umstände nicht länger in der Lage ist, seinen Pflichten nachzukommen. Ich weiß um deine Zweifel, Karl, denn ich kenne dich schon lang. Du glaubst, die Verantwortung eines Meisterbibliothekars nicht tragen zu können. Doch mein guter Freund Thaddäus hat dich für dieses Amt vorgeschlagen, und ich begrüße seine Wahl. Du wirst deine Bestimmung erfüllen, dessen bin ich gewiss. TU, WAS DU WILLST, und es wird das Richtige für Phantásien sein. Aber, bitte tu es! Nicht allein die Bibliothek ist in großer Gefahr, sondern ganz Phantásien. Mit jedem fehlenden Buch wird unserer Welt der Lebenssaft entzogen – ich fühle es von Tag zu Tag stärker in meinem geschwächten, erkaltenden Leib.
Ich wünsche dir eine sichere Hand in deiner neuen verantwortungsvollen Aufgabe.
Karl starrte fassungslos auf die Berufung. Die Worte las er wohl, allein ihm fehlte der Glaube. Und außerdem gab es auf der Urkunde einen kleinen, aber entscheidenden Schönheitsfehler.
»Und? Was ist es?«, fragte Herr Trutz. Er schien längst zu ahnen, was in dem kaiserlichen Schreiben stand.
Karl reichte dem Bibliothekar wortlos das Blatt.
Herr Trutz hatte es schnell gelesen. Nun malte sich sogar auf seinem sonst immer so gelassenen Gesicht ein Ausdruck von Ratlosigkeit. »Es fehlt die Unterschrift.«
»Und die Ortsangabe. Formaljuristisch ist die Berufung nur ein wertloser Fetzen Papier«, zitierte Karl einen Fachmann auf diesem Gebiet.
Flatterich meldete sich drucksend zu Wort. »Das ist der Grund, weshalb ich nicht sicher war, ob ich die Zustellung überhaupt ausführen sollte. Die Goldäugige Gebieterin wusste, wo ich Sie finden würde. Sie bat mich, den Brief für sie zu besorgen, aber ehe sie ihn unterschreiben konnte, war sie plötzlich verschwunden.«
»Was sagst du da?«, keuchte Herr Trutz. Auf und unter dem Glücksdrachen schossen ratlose Blicke hin und her. Die Palastwachen tuschelten aufgeregt.
»Sie haben schon richtig gehört, ehrenwerter Thaddäus«, jammerte der Grünling. »Die Kindliche Kaiserin ist weg. Und niemand weiß, wohin.«
DIE STADT DER DIEBE
In Noktunia herrschte ewige Nacht. Es war eine Gegend Phantásiens, die hauptsächlich von zwielichtigem Gesindel bewohnt wurde. Die Bevölkerung setzte sich zu ungefähr gleichen Teilen aus Nachtalben, Finsterlingen und Schwarztrollen zusammen. Außerdem gab es noch eine kleine, in allen möglichen Grauschattierungen gemischte Minderheit anderer phantásischer Geschöpfe, zu denen auch eine Kolonie Wechselbalge gehörte. Abgesehen vielleicht vom Gelichterland, dem Reich der Finsteren Fürstin Gaya, hausten nirgendwo so viele dunkle Gestalten wie in Noktunia.
Als Karl, während die Fuchur dem falschen Sammelraben nachjagte, von Herrn Trutz über diese demographischen Einzelheiten aufgeklärt wurde, fühlte er sich noch elender. Wo war er da nur hineingeraten! Viel lieber wäre er mit der unterschriebenen Generalvollmacht zur Phantásischen Bibliothek und von dort in das Antiquariat zurückgekehrt.
Stattdessen hatte er nun zwei ungültige Urkunden in der Tasche.
TU, WAS DU WILLST. Die merkwürdigerweise groß geschriebenen vier Worte aus dem Berufungsschreiben gingen ihm nicht aus dem Kopf. Herr Trutz hatte gesagt, die Kindliche Kaiserin trage ein Medaillon um den Hals, AURYN, manchmal auch das Kleinod oder der Glanz genannt, auf dessen Rückseite diese vier Wörter eingraviert waren. Inzwischen wusste er ja, dass die Herrscherin Phantásiens jeden in ihrem Reich gleich behandelte, aber ihr Motto kam Karl denn doch wie eine Einladung zur Willkür vor. Täglich erlebte er ja die kleinen Schikanen und großen Tyranneien eines Apparats, der jede Menschlichkeit verloren zu haben schien. Sollte die Goldäugige Gebieterin nicht besser die Einladung
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