Isau, Ralf
aussprechen: »Tu was Gutes«?
Herr Trutz hatte seinem designierten Nachfolger – obwohl er während des Fluges ziemlich schreien musste – eine Frage gestellt: »Wenn es in Ihrer Vorstellung nicht das Böse gäbe, könnten Sie sich dann für das Gute entscheiden?«
Danach war Karl ziemlich lang damit beschäftigt gewesen, sich den Sinn zu erschließen, der hinter diesen Worten steckte. Phantásien war für ihn so real! Immer wieder ertappte er sich dabei, dass er es nicht für die Innere Welt hielt, sondern eher für ein wunderliches Land in seiner eigenen. Aber Phantásien war von der Vorstellungskraft erschaffen worden. Deshalb hatten hier Gut und Böse ihren Platz und existierten mit Duldung der Kindlichen Kaiserin nebeneinander. Wäre es anders, dann hätten die Menschen keinen freien Willen mehr. Sie würden mechanisch nur noch das eine tun, ohne sich gegen das andere entscheiden zu können.
Leider bewahrte ihn diese Einsicht nicht vor der Bürde, seinen Weg immer wieder aufs Neue bestimmen zu müssen. Ganz im Gegenteil.
Im Licht des nach wie vor vollen Mondes und der Sterne sah Karl tief unter sich eine endlose geschlossene Schneedecke. Das war schon seit dem Mittag so. Nach seiner Uhr hatte die Dämmerung gegen drei eingesetzt, als der Glücksdrache die Grenze nach Noktunia überflog. Irgendwann überwältigte ihn einmal mehr die bleierne Müdigkeit.
Als er wieder erwachte, hing er beängstigend schräg im Sattel. Hatte er eben einen Ruck verspürt? Die Fuchur befand sich in bedrohlicher Schieflage. Ohne die Haltegurte wäre er vermutlich in die Tiefe gestürzt. Der eisige Wind pfiff ihm um die Nase, weil der Glücksdrache steil nach oben schoss.
»Entschuldigt, Leute!«, schrie Qutopía. »Hab gerade auf den Kompass gesehen und die Mauer zu spät bemerkt.«
Karl blinzelte hinter seiner Brille, und nun erst sah er die pechschwarze Wand, an der die Fuchur offensichtlich haarscharf vorbeigeschrammt war. »Was ist denn das?«, keuchte er.
»Kleptonia«, rief Herr Trutz über die Schulter. »Die Stadt der Diebe, auch Nachtstadt genannt. Der yskálnarische Kompass hat den Verlust der gestohlenen Karte wieder wettgemacht.«
»Die haben aber einen hohen Schutzwall hier. Sieht eher aus wie ein riesiger Schornstein.«
»Ein Schlot, in dem sich eine ganze Stadt verbirgt. Er ist so hoch, dass der Mond nur an einem einzigen Tag im Jahr hineinscheinen kann. Dies hier ist der finsterste Ort im dunkelsten Land von Phantásien.«
»Na dann, gute Nacht!«
»Ich habe die Kontrolle verloren. Wahrscheinlich hat die Fuchur etwas abbekommen, als wir die Mauer berührt haben«, meldete sich Qutopías besorgte Stimme von vorn.
»Sie hat sie touchiert?«, stieß Karl entsetzt hervor.
Herr Trutz lachte wild. »Haben Sie geschlafen? Was denken Sie denn, was dieser Rums eben war?«
»Wir müssen notlanden«, rief die Pilotin.
»Sollten wir dazu nicht nach unten?«, fragte Karl.
»Witzbold! Wenn wir noch lange steigen, ist es mit dem Glück unseres Drachen vorbei. Er wird einfach zerbrechen.«
»Ach du liebes bisschen!«
Herr Trutz war noch der Ruhigste unter den dreien. »Ich will Ihnen ja nicht in Ihr Handwerk pfuschen, meine Liebe, aber wenn's irgendwie möglich wäre, könnten Sie die Bruchlandung dann in der Stadt hinlegen?«
Qutopía warf den Kopf zurück. »Das glaub ich nicht!« Dann fing sie an sich loszuschnallen.
»Was macht sie da?«, rief Karl entsetzt.
»Was machen Sie da?«, gab Herr Trutz die Frage weiter.
Das Drachenmädchen reichte ihm ihre diversen Flugkontrollriemen. »Hier, halten Sie das.«
»Bitte entschuldigen Sie. So war meine Frage nun wirklich nicht...«
»Ich muss nur nach hinten zum Schwanz. Irgendwas klemmt da. Vielleicht kann ich's wieder gängig machen.«
Ohne sich mit weiteren Protesten des Meisterbibliothekars aufzuhalten, hangelte sich Qutopía zuerst an dem Alten, dann an Karl vorbei – der Glücksdrache war ja noch immer im Steigflug.
Karl verfolgte im Mondlicht ihre verzweifelten Bemühungen mit wachsendem Schrecken. Sie hakte sich an einer verborgenen Öse fest und saß nun entgegen der Flugrichtung rittlings auf dem Drachen. Auf dem Rücken – oder war es bereits der Schwanz? – klappte sie mehrere Schuppen hoch. Dann fing sie an darin herumzufuhrwerken. Ab und zu hörte Karl ein metallisches Knirschen, das ihm durch Mark und Bein ging. Immer höher stieg der Drache an der schwarzen Mauer, die kein Ende zu nehmen schien.
Mit einem Mal kreischte es in den
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