Isau, Ralf
herausrückte, durfte Karl auch sein Schwert wieder an sich nehmen. Als erstaunlichste Leihgabe des Königs der Diebe erwies sich jedoch ein schmaler Gürtel, lang genug, um ihn sich zweimal um die Taille zu schlingen, der aus flachen gläsernen Kettengliedern bestand und seinen Träger unsichtbar machte. Karl hatte ihn sofort ausprobieren müssen, war aber froh, als er das Ding wieder ablegen durfte – das Gefühl, die eigene Hand nicht mehr vor Augen zu sehen, hatte ihm überhaupt nicht behagt.
Je besser die Ortskenntnisse, desto erfolgreicher der Bruch. So lautete einer der Merksätze, die Elster noch aus seiner Ausbildungszeit im Traum hersagen konnte. Der Oberdieb hatte sich daher viel Zeit genommen, um jede von seinen Spitzeln ausspionierte Einzelheit über den Schwarzen Elfenbeinturm penibel zu erklären. Der Nox strahle eine Kälte aus, die im ganzen Gebäude spürbar sei. Zugleich entziehe er ihm allmählich die Schwärze. Dadurch herrsche in Innern des Bauwerks ein ständiges Zwielicht, ideal für einen Dieb. Nach Sonnenuntergang umgebe den Turm darüber hinaus eine glühende Aura, da die gewaltigen Kräfte des Nox sogar die Dunkelheit der Nacht ansaugen. Weil die Kälte des schwarzen Steins nicht bis nach außen dringe, sei dort zudem mit großer Hitze zu rechnen – eine Folge der Phantásischen Dualität, deren Paare sich immer gegenseitig ergänzten, wie Karl inzwischen wusste.
Der Schwarze Elfenbeinturm sei noch nicht ganz vollendet, betonte Elster. Äußerlich fehle zwar nur noch die Spitze – Gerüchten zufolge solle sie die Gestalt einer verdorrten Magnolienblüte erhalten –, aber mit dem Innenausbau hapere es noch. In der Unfertigkeit lägen gleich mehrere Vorteile für Karl. Der Turm sei sogar höher als die Stadtmauer von Kleptonia, also eine riesige Baustelle. Somit biete er viele Verstecke. Auch müsse man im oberen Abschnitt nicht mit vielen Wächtern rechnen, zumal die Hausherrin erst kurz vor der Einweihung ihr neues Domizil beziehen wolle.
Sie hieß Xayíde und war die Schwester der Kindlichen Kaiserin. Diese Eröffnung hatte Karl kurzzeitig aus der Fassung gebracht. Die ganze Schilderung des Schwarzen Elfenbeinturms war düster, bedrohlich. Wie konnte jemand, der vom gleichen Blut wie Weisenkind war, sich solch ein Heim bauen?
Obwohl Herr Trutz und Qutopía die Familienverhältnisse bei Hofe kannten, hatten sie, genauso wie Elster, nur unbefriedigende Antworten parat. Äußerlich habe der Schwarze Elfenbeinturm mit dem weißen der Kindlichen Kaiserin große Ähnlichkeit, was einige Rückschlüsse auf Xayídes Motive zuließ. Obwohl ihr noch nie jemand eine Auflehnung gegen ihre Schwester, die Kaiserin, hatte nachweisen können, galt es doch als offenes Geheimnis, dass sie nichts unversucht ließ, um die Macht über Phantásien an sich zu reißen. Sie war eine Zauberin und eine Meisterin der Verführung. Auf die eine oder andere Weise konnte sie fast allem und jedem ihren Willen aufzwingen.
Als Karl hinreichend eingeschüchtert war, hatte Elster noch einmal darauf hingewiesen, dass Xayíde dem Schwarzen Elfenbeinturm derzeit fernbleibe, weil sie den Baulärm nicht ertragen könne. Sie residiere noch in ihrem alten Zauberschloss Hórok, das wegen seiner recht eigenwilligen Gestalt auch die Sehende Hand genannt werde. Die Aufsicht in dem schwarzen Turm habe sie ihrem Spiegelbild übertragen. Wie gefährlich dieses sei, hatte Elster nicht sagen können, aber sicherheitshalber zur Vorsicht gemahnt: »Alles, was hohl ist, kann sie nach Belieben kontrollieren, und du musst damit rechnen, dass auch ihr Spiegelbild diese Macht besitzt. Behüte also deine Gedanken. Lass dich auf keinen Fall von ihren Dienern irgendwie zermürben oder entmutigen, denn Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit können den Sinn leer machen. Dann wärst du ihr unweigerlich ausgeliefert.«
Nachdem Karl diese Warnung wiederholt hatte, wies der König der Diebe auf eine weitere, nicht zu unterschätzende Schwierigkeit hin. Diese hänge mit dem unwegsamen Umfeld des Turms zusammen. Das Gebäude stehe auf dem Schieferhang, einer riesigen, schrägen Ebene, die an die Toten Berge grenze, eine trostlose Felsenwüste. Der schwarzgraue Schiefer sei spiegelblank, wie poliert, und jeder, der versuche, zum Schwarzen Elfenbeinturm vorzudringen, rutsche unweigerlich ab und falle in den Tiefen Abgrund, dessen Name für sich spreche. Niemand, der dort hineinfalle, komme wieder heraus.
Jetzt, als Karl sich all diese Einzelheiten
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