Isau, Ralf
schlingpflanzenhäuptige Asudem hatte offenbar grüne Augen und Qutopía ebenso. Aber zumindest die des Drachenmädchens glühten nicht im Dunkeln. Karl fragte sich, ob es zwischen dem Verschwinden der Bücher aus der Phantäsischen Bibliothek, dem zurückbleibenden Nichts und den glühenden Augen einen Zusammenhang gab.
Die öde Landschaft tief unter ihm passte zu seiner Trübseligkeit, ja, sie schien sie noch zu verstärken. Er sah nur Steine und schroffe Berge. Offenbar näherten sie sich dem Ziel ihrer Reise. Langsam glitt eine Schlucht heran, die sich wie ein riesiger Riss durch die Wüste zog. Zu beiden Seiten verlor sie sich am Horizont.
»Jetzt sind wir bald da«, rief Qutopía über die Schulter und bestätigte damit seine Vermutungen. »Wir überfliegen gerade den Tiefen Abgrund. Teilt Phantásien in zwei Hälften und natürlich auch das Land der Toten Berge, über dem wir uns gerade befinden. Nur ungefähr eine halbe Meile breit ist dieser Spalt, aber sein Name ist trotzdem eine Untertreibung. Es heißt, er sei ein bodenloser Schlund. Wollen wir mal auskundschaften, ob's stimmt?«
»Bist du verrückt?«
Sie lachte. »War nur ein Scherz. Das da vor uns muss der Schieferhang sein.«
Karl lehnte sich etwas zur Seite, um besser an dem Drachenmädchen vorbeispähen zu können. Jenseits der trostlos grauen Felsenwüste sah er eine dünne dunkle Linie. Ihn fröstelte. Unwillkürlich wanderte seine Hand zu der Stelle über dem Herzen, wo er jetzt den Lederbeutel mit der stetig glimmenden Meerschaumpfeife trug. Um sie vor den Räubern zu verbergen, hatte er sie in die linke Innentasche des Mantels gesteckt. Er spürte die Wärme, und sie tat ihm gut.
Allmählich nahm der Schieferhang im Abendlicht Konturen an. Er glich einem gigantischen schwarzgrauen Keil. Bald wurde erkennbar, dass nur der steile Abhang an der Grenze zu den Toten Bergen dieses Bild vermittelte. Als die Fuchur die Lehne überflogen hatte, erstreckte sich der Schieferhang vor ihnen als riesige, wie flüssiger Lack spiegelnde schiefe Ebene. Steuerbords verschwand sie hoch in den Wolken und backbords endete sie abrupt im Tiefen Abgrund.
»Der Schwarze Elfenbeinturm!«, rief Qutopía bald darauf und deutete nach vorn.
Auch Karl hatte danach Ausschau gehalten und ihn bereits entdeckt. Unten auf dem Schieferberg herrschte schon Nacht, aber aus der luftigen Höhe hob sich das riesige Bauwerk wie ein schaurig-schöner Dorn vom tiefvioletten Himmel ab. Je näher die Fuchur kam, desto mehr Einzelheiten konnte Karl erkennen.
Der Schwarze Elfenbeinturm war rund, unten breit, oben schmal und natürlich schwarz. Eine Straße schraubte sich vom Schieferhang, aus dem das Bauwerk lotrecht aufragte, bis zur Spitze empor. In und an dem Gebäude brannten einzelne Lichter. Außerdem war es von einer dünnen strahlenden Aura umgeben, als hätte jemand seine Umrisse mit einem weißen Konturstift nachgezogen – genau wie von Elster beschrieben.
Der Kontrast zwischen dem spiegelglatten Umland und den schroffen Außenmauern des Turms hätte stärker nicht sein können. Hier gab es Giebel und Erker, Türmchen und Terrassen, Balkone und Stege. Obwohl Xayídes zukünftige Residenz noch nicht einmal fertig war, wirkte alles alt, wie unter einer dicken Kruste verborgen, als hätten Scharen von Pechvögeln seit Jahrhunderten ihren schwarzen Unrat darüber abgeladen.
»An der Basis gibt es reichlich Landeplätze. Die Terrassen sind vermutlich extra für Flug-Boten gebaut worden. Wenn wir da runtergehen, würdest du viel schneller ins Verlies kommen«, gab Qutopía zu bedenken.
Karl schüttelte den Kopf, obwohl sie es nicht sehen konnte. »Nein. Wir machen's so, wie ich es entschieden habe.«
Sie nickte. »Du bist der Bestimmer.«
Die Fuchur näherte sich dem Bauwerk von der Nachtseite her aus großer Höhe. Zuletzt ließ Qutopía sie wie eine Spinne am Faden auf die unfertige Turmspitze hinab. So hoffte Karl eventuellen Spähern ein Schnippchen zu schlagen. Der obere Abschluss des noch unfertigen Gebäudes war eine Plattform, vermutlich weil hier die von Elster erwähnte Spitze aufgesetzt werden sollte. Im Moment lag nur Handwerkszeug herum. Nirgends waren Wachen oder Bauarbeiter zu sehen, genau wie Karl es sich ausgerechnet hatte. Die helle Aura, die ihm schon im Anflug aufgefallen war, sah nun, da der Turm direkt unter ihm lag, wie eine dünne Nebelhülle aus, die das schwarze Bauwerk in ein gespenstisch fahles Licht tauchte. Nach oben bildete sie eine
Weitere Kostenlose Bücher