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Isau, Ralf

Isau, Ralf

Titel: Isau, Ralf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerry
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phosphoreszierende Licht verbreiteten, vier endlose Reihen von Lichtern, die sich tief unten zu berühren schienen. Erheblich näher war da schon die Mütze, die er in diesem Augenblick entdeckte und die sich gemächlich von ihm entfernte. Er blickte nach oben. Weit über sich sah er einen Schuh, eine kleine Säge und zwei breite Pinsel, die sich ihm ebenso bedächtig näherten. Die Handwerker des Schwarzen Elfenbeinturmes waren allem Anschein nach nicht besonders ordentlich.
    Karl kramte in seinen Taschen, weil er etwas ausprobieren wollte, und er wurde fündig. Ein kleiner Zipfel Trockenfleisch aus Qutopías Reiseproviant lag in seiner offenen Hand, jedenfalls fühlte es sich so an, denn er konnte ja weder das eine noch das andere sehen. Mit der Linken hielt er sich an einem Zahn der Maul-Tür fest und schob die Rechte vorsichtig in den lichten Schacht. Der Luftzug, den er schon zuvor bemerkt hatte, war ganz deutlich zu spüren. Nicht wie in einem Kamin von unten nach oben, sondern genau umgekehrt saugte etwas am Fundament des Turmes alles nach unten. Rasch zog Karl die Hand zurück.
    Augenblicklich wurde der Zipfel sichtbar. Er schwebte. Schwerelos hing er vor Karls Nase in der Luft. Und dann setzte er sich langsam in Bewegung. Das Trockenfleisch trieb nach unten.
    Was nun? Der Gedanke, sich irgendeiner unsichtbaren Kraft anzuvertrauen, erschreckte Karl. Noch entmutigender war allerdings die Vorstellung, zu Fuß den weiten Weg zur Basis des Turmes zurückzulegen. Bei dem Tempo, in dem hier Mützen, Hämmer und andere Dinge zu Boden sanken, würden sie vermutlich am nächsten Morgen noch nicht unten angekommen sein. Zu langsam!
    Karls Augen brannten von dem kränklichen grünen Licht in der Röhre. Er fühlte sich ausgelaugt. Aber er zwang sich erneut zum Nachdenken. Elster hatte ihm unendlich viele Einzelheiten über den Schwarzen Elfenbeinturm erzählt – seine Spione mussten wirklich fleißig gewesen sein –, aber Karl konnte sich nicht an die kleinste Äußerung über Paternoster erinnern. Auch nicht über Fahrstühle oder Gleitsitze oder Schwebeschlünde oder wie immer derlei Einrichtungen in Phantásien heißen mochten... Halt! Mit einem Mal fiel ihm etwas ein: Auf die eine oder andere Weise könne Xayíde fast allem und jedem ihren Willen aufzwingen, hatte der König der Diebe gesagt.
    Fast allem! Und jedem! Auch sich selbst?, fragte sich Karl. Oder diesem Schlund? Er schloss die Augen, atmete tief durch, ließ den Türholm los und trat einen Schritt vor.
    Die Entscheidung war ihm nicht leicht gefallen. Aber er hatte sich nicht geirrt. Er schwebte. Wie zuvor der Zipfel. Langsam glitt er nach unten. Er schloss die Augen und konzentrierte sich. Wie zwingt man einem Paternoster seinen Willen auf? Karl versuchte es mit allen möglichen Gedanken. Richtungsangaben: Nach unten ... hinab ... abwärts ... Stillen Befehlen: Sinke! Sacke! Falle! Und eher metaphorischen Botschaften: Führe mich zur Wurzel des Schwarzdorns. Sogar verzweifeltes Flehen – Zum Erdgesehoss, bitte! – wollte nichts fruchten. Er trieb träge nach unten. Das Maul, das ihn verschluckt hatte, lag zwar schon unerreichbar über ihm, aber zu Fuß wäre er trotzdem schneller gewesen. Seine blendende Idee war wohl doch nicht so genial gewesen. Oder Xayíde und ihre Dienerschar benutzten irgendwelche Zauberwörter, um ...
    Mit einem Mal wurde es in Karls trübem Gedankennebel taghell.
    Ich will zum Nox!
    Kaum hatte sein Bewusstsein den Worten Gestalt verliehen, beschleunigte sich seine Abwärtsbewegung. Schon wollte neue Panik in ihm hochkriechen, aber als sich die Sinkgeschwindigkeit auf ein erträgliches Maß einpendelte, wurde er wieder ruhiger. Nach einer Weile machte ihm die neue Art der Fortbewegung sogar Spaß. Die leuchtenden Schildkrötenpanzer glitten wie die Lampen einer Lichterkette an ihm vorüber.

    ∞
      
    Je tiefer er sank, desto kälter wurde es. Als Karl auf das untere Ende der Röhre zuschwebte, kam er sich vor wie ein fliegender Eiszapfen. Ohne den Mantel seines Vaters wäre er vermutlich während des immer noch langen Abstiegs erfroren. Er verlangsamte die Sinkgeschwindigkeit, indem er den Druck seines Willens vorsichtig verminderte. Ich möchte zum Nox, bei nächster Gelegenheit.
    Sanft kam er zum Stillstand. Auf dem Grund des Schachtes, etwa ein halbes Stockwerk unter ihm, lagen kleine Spachtel und Kellen von Stukkateuren, der Hammer eines Zimmermanns und das Gebiss eines...? Karl hätte auf einen Vampir getippt, wollte

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