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Isau, Ralf

Isau, Ralf

Titel: Isau, Ralf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerry
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die Form eines aufgesperrten Mauls. Der Rundbogen war mit spitzen Zähnen verziert. Eine Tür fehlte noch. Als Karl in den Rachenbereich des Unwesens vordrang, hörte er ein sonderbares Geräusch. Früher hatte er hin und wieder in eine von Vaters leeren Weinflaschen geblasen und ihr einen ähnlichen Laut entlockt, einen ungemein tiefen, vibrierenden Flötenton. Meist entstand mit dem Klang sofort auch ein bestimmter Gedanke in seinem Kopf: So muss sich das Nebelhorn des Dampfers anhören, mit dem ich von hier weit, weit wegfahre. Gewöhnlich hatte er die Flasche schnell wieder zu den anderen gestellt. Das Geräusch in dem Turm war nicht unbedingt lauter, aber irgendwie ... größer. Ein besseres Wort fiel ihm nicht ein. So, als bliesen viele kleine Jungen auf vielen leeren Weinflaschen.
    Im »Rachenraum« hinter dem Maul herrschten erträglichere Temperaturen. Er war noch nicht eingerichtet. Seine geringe Größe ließ auf eine eher profane Zweckbestimmung schließen. Vielleicht würde er in Zukunft einem von Xayídes Schreibern als Stube dienen. Hier lehnte eine Leiter, da entdeckte Karl das Handwerkszeug eines Steinmetzen auf dem Boden: einen runden Holzschlägel, Eisenhämmer, verschiedene Meißel, einen Wassereimer, Lappen und Töpfe mit Schleifmitteln. An der Wand darüber befand sich ein noch unfertiges Relief. Es zeigte eine Frau mit dem Unterleib eines Drachen, die gerade ein Kind verschlang – nur die Beine ragten noch aus ihrem Maul. Angewidert wandte sich Karl ab.
    Durch eine weitere Maul-Tür gelangte er auf einen breiten runden Flur. Von der Hitze draußen war fast nichts mehr zu spüren. Im Nacken fühlte er einen schwachen Zug. Irgendetwas saugte die Luft in den Turm hinein und kühlte sie gleichzeitig ab. Karl versuchte sich in der fremden Umgebung zu orientieren und wunderte sich, wie leicht ihm dies fiel. Andere gezähnte Eingänge reihten sich hier wie Perlen an der Schnur. Tatsächlich erinnerte ihn dieses Stockwerk des Schwarzen Elfenbeinturms ein wenig an das Rathaus daheim. Seltsam war das fahle Licht; er vermochte nicht festzustellen, woher es kam. Es ließ im näheren Umkreis alles wie auf einer Schwarzweißfotografie aussehen.
    Irgendwo musste es Wachen geben. Obwohl der Hort des Nox noch tief unter ihm lag, wollte er sich besser früher als zu spät auf eine überraschende Begegnung mit ihnen einstellen. Karl legte die rechte Hand auf den Griff seines Schwertes und versuchte es langsam herauszuziehen. Aber es gelang ihm nicht.
    »Was ist nun schon wieder?«, zischte er, ermahnte sich aber sofort wieder zur Ruhe. Im Haus der Erwartungen hatte sich seine nicht besonders ansehnliche Waffe als ausgesprochen hilfreich erwiesen. Warum streikte sie jetzt? Hat sie nicht auch König Kumulus und später Elsters Schurken den Dienst verweigert? Möglicherweise besaß das Schwert ja einen eigenen Willen. Vielleicht besser, ihn nicht zu brechen, entschied Karl aus einem unbestimmten Gefühl heraus und ließ es stecken, wo es war.
    Auf leisen Sohlen folgte er entgegen dem Uhrzeigersinn dem gebogenen Flur. Die Maul-Türen sahen alle gleich aus. Eben wie in einem Amt. Irgendwie machte die geballte Gleichförmigkeit die hässlichen Fratzen nur noch abstoßender. Mit einem Mal bemerkte er zu seiner Linken ein phosphoreszierendes Licht, das sich deutlich von der fahlen Flurbeleuchtung abhob. Karl lief rasch darauf zu.
    Wieder waren es Durchgänge, zwei weit aufgerissene grässliche Mäuler. Kurz hinter dem ersten entdeckte er eine Wand. Etwa doch ein Paternoster? Als er bei dem gezahnten Durchlass ankam, schreckte er sofort wieder zurück. Entsetzt schnappte er nach Luft.
    Vielleicht war die senkrechte Röhre ja ein Aufzugsschacht, aber dann einer ohne Fahrstuhl. Der kurze Blick in die Tiefe hatte ihm eine Beklemmung beschert, die sich gar nicht mehr abschütteln lassen wollte. Nun war er auf einem Briefgreif geflogen und auf einem Glücksdrachen, aber das Dahingleiten unter dem weiten Himmel hatte ihm lange nicht so viel ausgemacht wie der Blick in diesen schmalen, schier unendlichen Schlund. Karl zwang sich ruhig zu atmen. Plötzlich stutzte er.
    Ein Vorschlaghammer schwebte vorüber. Das schwere Werkzeug kam sehr langsam von oben den Schacht herab und trieb an Karl vorbei. Ein unsichtbarer Paternoster? Er lief zur zweiten Maul-Tür, nahm all seinen Mut zusammen und steckte den Kopf hindurch. Erst jetzt bemerkte er die glatten Lampen an den Schachtwänden, die wie Schildkrötenpanzer aussahen und das

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