Isau, Ralf
Wille kontrollierte. Selbst planmäßiges Absuchen des Bodens – vermutlich ein Unterfangen für mehrere Tage – würde ihm nicht helfen, die verborgene Luke zu finden. Erinnere dich! Was hat Elster noch gesagt? Wie kommst du zum Nox? Der Oberdieb hatte von einer besonderen Eigenschaft des schwarzen Steins gesprochen: Er sauge Dunkelheit auf wie ein trockener Schwamm Wasser.
Das ist es! Jetzt erst begriff Karl vollends, warum der Schwarze Elfenbeinturm mit seinen vielen Öffnungen, der doch eigentlich wie ein Schornstein die Luft von unten nach oben ziehen müsste, sich genau umgekehrt verhielt. Die Kraft des Nox entzog ja der Nacht ihre Finsternis. Und wohl auch dem Turm. Daher das fahle Licht im Gebäude und außerhalb. Karls Herz begann heftig zu schlagen. Er war der Lösung ganz nah. Der Luftzug, den er nach dem Betreten des Turmes gespürt hatte, musste ursächlich ein Lichtzug gewesen sein oder zumindest das, was passierte, wenn die Dunkelheit aus der Umgebung gesaugt wurde ...
Saugen! Das Wort flammte wie eine Leuchtrakete in Karls Bewusstsein auf. Er musste nur der Strömung folgen. Sie würde ihn direkt zum Nox führen. Aber wie? Zwar spürte er die Bewegung der Luft – oder vermochte er sogar die Bewegung der Dunkelheit wahrzunehmen? –, aber seine Sinne waren zu schwach, um sich dies zunutze zu machen. Schwarzer Rauch wäre nicht schlecht, überlegte er, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Die Panzerriesen würden ihn vielleicht riechen können.
Er kramte in seinen Taschen, stieß auf Vertrautes und sogar Überraschendes. Das Magieskop! Er hatte es im Kristallpalast von Wolkenburg unbeabsichtigt eingesteckt und Herrn Trutz seitdem noch nicht zurückgegeben. Es konnte Verzaubertes in seiner wahren Gestalt zeigen. Also auch ein schwarzes Loch auf schwarzem Grund. Karl suchte weiter. Ein Schnipsel von der Generalvollmacht war vermutlich – trotz der Tinte – viel zu hell. Der Beutel und die Handschuhe von Elster schieden gleich ganz aus. Das Schwert – ungeeignet. Ein Büschel Haare? Er war aschblond. Habe ich denn überhaupt nichts Schwarzes dabei?
Doch! Plötzlich fiel es ihm ein. Am liebsten hätte er laut aufgelacht. Behutsam steckte er das eine Ende des gläsernen Gürtels in die rechte und das andere in die linke Manteltasche. Später würde er es unter mindestens zwei Lagen Stoff verbergen, um sich nicht noch einmal durch ein Klirren zu verraten. Anschließend schlich er einige Schritte weit von der hellen Maul-Tür des Schachtes weg. Dann ließ er sich auf das rechte Knie nieder und begann Hallúzinas fast vier Tage alten Verband von seinem Fußgelenk abzuwickeln. Er hatte sich ein wenig über die pechschwarzen Heilpflanzen gewundert. Jetzt waren sie seine ganze Hoffnung. Wenn sie sich nur nicht verfärbt hatten!
Als er das letzte Stück des Verbandes löste, blieb die Kräuterpackung wie eine Schnitzelpanade an seinem Bein hängen. Zumindest die äußere Schicht war knochentrocken. Er musste sich ganz auf seinen Tastsinn verlassen, weil er sich ja selbst nicht sehen konnte. Mit der linken Hand drückte und kratzte er an der Kruste und versuchte die abbröckelnden Blätter in der rechten aufzufangen. Bald hielt er ein ermutigendes Häuflein in der hohlen Hand, das sich wie Tee anfühlte. Bitte lass die Blätter schwarz sein!, flehte er im Stillen, während er die Reste des Heilumschlags zwischen seinen beiden Handflächen zu Staub zermahlte.
Noch einmal blickte Karl sich um. Die schwarzen Panzerriesen standen bewegungslos in der Halle verteilt. Jetzt würde sich zeigen, wie gut ihre Augen waren oder was immer sie zum Sehen benutzten. Er atmete tief ein, streute ein wenig von dem Kräuterstaub auf seine rechte Handfläche, hielt sie schräg nach oben vor den Mund und blies. Das Geräusch der ausströmenden Luft kam ihm wie das Brausen eines Orkans vor. Aber keine der Ritterrüstungen reagierte darauf.
Eine kleine dunkle Wolke erhob sich in die Luft.
Es ist schwarz!, triumphierte Karl im Stillen. Aufmerksam verfolgte er den Pulvernebel. Er bewegte sich. Langsam zog er weg von der Zentralspindel in einen Bereich der Halle, wo es keine Eingänge gab. Bald hatten sich die feinen Partikel jedoch so weit in der Luft verteilt, dass er sie aus den Augen verlor. Er füllte abermals eine kleine Menge Staub in seine Rechte und wiederholte die Prozedur. Auf diese Weise durchquerte er in mehreren Etappen den riesigen Raum. Alles musste sehr behutsam, sehr leise vonstatten gehen, denn er bewegte
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