Isau, Ralf
Schandtat hatte sich Xayíde da ausgedacht? Einen Menschen – der Größe des undeutlich sichtbaren Schemens nach zu urteilen noch ein Kind! – in Eis einzuschließen, damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Vermutlich war dieser Block zur Abschreckung aufgestellt, als Warnung für alle, die überlegten weiterzugehen.
Karl spürte eine nie gekannte Wut in sich aufsteigen. Er drückte sich eng an die linke Wand. Überrascht stellte er fest, dass sie heiß war. Der Nox nimmt sich die Dunkelheit und Kälte, zurück bleiben Licht und Wärme, rief er sich erneut in den Sinn. Noch einmal kontrollierte er seine Diebesausrüstung. Zunächst zog er die weißen Handschuhe an. Sie passten, waren sogar ein wenig zu groß. Außerdem steckte in seiner Manteltasche der Beutel, den man mit einem Band verschließen konnte. Elster hatte nicht ohne Stolz auf das lichtdichte, weiche und zugleich ungemein reißfeste Material dieser kostbaren Utensilien hingewiesen. Das verwendete Tuch war aus dem überaus seltenen Mähnenhaar von Albinoeinhörnern gewebt. Das Gewebe sei sogar imstande, die Macht des Nox zu bannen. Karl hoffte inständig, dass er mit dieser Versicherung nicht nur hatte beruhigt werden sollen. Er tastete nach dem gläsernen Gürtel, den er um den Mantel geschlungen und behutsam wie eine Kordel über Kreuz verknotet hatte. Gut. Die Enden steckten noch in seinen Taschen. Und das Schwert? Gar nicht gut. Das sture Ding weigerte sich immer noch, seinen Dienst anzutreten. Dann musste es eben ohne »schneidige Hilfe« gehen.
Leise wie ein Schatten trat Karl unter den Durchgang. Er hatte seinen Geist gegen die furchtbarsten Anblicke gewappnet, die er sich in seiner gewiss nicht armen Phantasie ausmalen konnte, aber der Eisblock mit dem Kind wischte jeden klaren Gedanken aus seinem Kopf. Wenn diese Untat wirklich als Warnung gedacht war, dann hatte Xayíde sich damit ins eigene Fleisch geschnitten! Sie würde ihren kostbarsten Schatz verlieren, vielleicht eine zu geringe Strafe für das Leben eines unschuldigen Kindes, aber gewiss eine, die ihr sehr wehtun würde.
Das gleißendhelle Gewölbe war natürlich weiß. Alles mutete seltsam flach an, und es dauerte eine Weile, bis Karl andere Konturen als die des Eisblocks erkennen konnte. Es sah aus, als befinde sich der Raum im Innern einer Kugel, die ein gutes Stück oberhalb des Äquators abgeschnitten worden war. Mit etwa zwanzig Schritten konnte man ihn durchmessen. Im Zentrum ragte ein mächtiger, kristallklarer Eiszapfen auf, an die drei Meter hoch und ziemlich dick. Und auf diesem ruhte aufrecht der Nox.
Die schwarze hohle Hand wirkte wie ein bösartiges Geschwür inmitten von all dem strahlenden Weiß. Sie war jenem Modell, mit dem sich Karl in Elsters Haus vertraut gemacht hatte, zum Verwechseln ähnlich. Die wohlgeformte Rechte mit den auffallend langen Fingernägeln wirkte ungemein lebensecht. Karl wäre es nicht einmal seltsam vorgekommen, wenn sie ihm zugewunken hätte.
Er wagte kaum zu atmen. Wo waren die Wächter? Er bemerkte, wie sich seine Haare bewegten. Sie wurden in Richtung Nox geweht. Auch an seinem Mantel spürte er den Zug. Offenbar saugte der Stein ihm bereits die Farbe aus. Warum ließen sich die Hüter nicht blicken? Sollte es wirklich so leicht sein, den Dunkelstein zu stehlen? Er trat einen Schritt vor.
Urplötzlich erschienen zu beiden Seiten hinter dem Nox die Wächter. Er hielt erschrocken die Luft an. Auf den ersten Blick sahen sie wie Katzen aus, die im Sitzen dösten. Nur riesiger. Obschon die eine etwas kleiner und nicht ganz so massig war. Vielleicht handelte es sich um Männchen und Weibchen. Dennoch waren beide ungefähr doppelt so groß wie Löwen. Und die langen, nackten Schwänze, die sich um ihre Pfoten wanden, hatten Schlangenköpfe. Weder die Katzen noch ihre Schwänze besaßen Augen. Die kraftvollen Wesen waren genauso weiß wie der Boden und das Gewölbe. Sie hockten ruhig vor der Wand, fast so, als wären sie schon die ganze Zeit da gewesen – etwas anderes konnte sich Karl auch nicht vorstellen. Er fühlte sich nun selbst wie ein Eisblock. Mit Sicherheit hatten die Hüter des Nox ihn aus ihrer perfekten Deckung beobachtet...
Nein, haben sie nicht. Du bist unsichtbar. Karl ließ – nicht wirklich erleichtert, aber zumindest ein wenig hoffnungsvoller – die in seiner Lunge eingesperrte Luft entweichen und bemerkte entsetzt, dass sein Atem in der kalten Luft kondensierte.
Die Hüter rührten sich nicht. Sie sind ja blind!,
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