Isau, Ralf
mit unzähligen Nadeln in seine Gedanken zu bohren, sie förmlich zu durchlöchern. Nicht mehr viel, und sein Bewusstsein würde zerfallen wie ein mottenzerfressener Teppich. Die Bestien kamen langsam näher. Jetzt machten sie sich daran, den Dieb endgültig einzueisen.
Hoffentlich kann wenigstens Qutopía fliehen. Das Bild des Drachenmädchens glitt nebelhaft durch Karls fast schon erstarrten Geist. Er sah ihr besorgtes Gesicht vor sich. Die grünen, im Abendlicht funkelnden Augen. Und dann spürte er mit einem Mal ihren honigsüßen Kuss auf seinen Lippen. Für einen Moment kehrte die Wärme zurück, die sie ihm damit gegeben hatte. Nur sein Herz und sein Kopf waren frei vom lähmenden Frost. Er blickte das kleinere der beiden Ungeheuer an und sagte: »Der Nox gehört von nun an mir, Galatia! Xayíde war nie seine rechtmäßige Besitzerin, und deshalb bin ich auch kein Dieb.« Er hätte nicht erklären können, woher diese Gewissheit kam. Vielleicht hatte der Dunkelstein selbst es ihm verraten. Rasch wandte er sich der zweiten Katzenschlange zu und verkündete: »Du wirst die schwarze Hand von nun an nicht länger behüten, Frigon, weil ich sie mit mir nehme – mit reinem Herzen.«
Was nun geschah, sollte in die Legenden von Phantásien eingehen. Frigon und Galatia, die beiden Hüter des Nox, verwandelten sich zu Eis, und in dem Maß, wie sie durchscheinend wurden, kehrte das Leben in Karls Glieder zurück. Als er sich wieder bewegen konnte, fiel sein Blick auf das Kind im Eisblock. Zu seinem großen Bedauern war es nicht aufgetaut und wiedererwacht. Offenbar hatte ein anderer Zauber es erstarren lassen. Was für ein Frevel! Erneut kochte ohnmächtige Wut in Karl hoch. Er zerrte am Griff seines Schwertes, aber es widersetzte sich ihm. Hektisch löste er die Scheide von seinem Gürtel.
»Ihr habt dem Bösen gedient«, schrie er die beiden Eiswächter an, »also werdet ihr wie die Bösen untergehen.« Mit diesem Urteil holte er weit aus und schmetterte das Schwert samt Scheide gegen Frigons Kopf. Dieser brach auch sofort ab und fiel zu Boden. Dort zersplitterte er in Abertausende von Eiskristallen. Doch Karls Zorn war immer noch nicht gestillt. Er schwang sein stumpfes Schwert ein zweites Mal und hieb mit aller Kraft auch gegen Galatias Katzenschädel. Dieser flog im Bogen herab und ging wie der erste sofort zu Bruch. Dann geschah etwas Überraschendes.
Karl hörte ein seltsames Knistern, das sich heller als eine Pikkoloflöte von dem allgegenwärtigen tiefen Pfeifton abhob. Verwundert sah er, wie sich unzählige Risse in den Eiskörpern der Wächter bildeten. Jäh fielen sie in sich zusammen.
»Zwei jämmerliche Häuflein Schnee«, murmelte er. Einen Augenblick später entsann er sich wieder seiner Aufgabe. Er blickte zu dem dicken Eiszapfen in der Mitte des Gewölbes. Der Nox hatte den Sieg über seine Hüter mit Gleichmut hingenommen. Oder sogar willkommen geheißen? Für einen Moment fragte sich Karl, ob es gut war, den schwarzen Stein an die Oberfläche zurückzubringen. Aber dann fielen ihm wieder Qutopía und Herr Trutz ein, die Bibliothek, Phantasien. Und Weisenkind, die kranke Kindliche Kaiserin.
Entschlossen lief er auf die kristallklare Säule zu, holte zum dritten Mal weit aus und schwang das Schwert dagegen.
Er hatte so viel Kraft in seinen Schlag gelegt, dass ihm der Griff aus der Hand gerissen wurde. Die Waffe schlitterte über den Boden und rutschte in den harschigen Haufen, der einmal Frigon gewesen war. Der eisige Sockel des Nox brach krachend entzwei. Geistesgegenwärtig fing Karl den Stein mit beiden Händen auf. Sogar das Gewicht hatten die Zwerge mit ihrem Modell überraschend genau getroffen.
Ein Kribbeln durchfuhr seinen Körper, als hätten tausend Hornissen dort Einzug gehalten. Die Kälte der schwarzen Hand drohte ihn zu überwältigen. Sie war weniger von jener Art, die einem Frostbeulen beschert, als vielmehr wie ein lähmendes Gift, das alle Gefühle und Gedanken erstarren lässt. Rasch holte er aus der Manteltasche den weißen Sack aus Einhornhaar, ließ die schwarze Hand hineingleiten und zog ihn zu. Erleichtert atmete er auf. Doch nur für einen Moment. So lange brauchte er, um seinen Fehler zu erkennen. Er hatte sich verraten.
Denn das dunkle, vibrierende Pfeifen aus dem Schwarzen Elfenbeinturm über ihm war im selben Augenblick erstorben, als der Nox in dem Beutel verschwand.
∞
Die Stille schmerzte fast mehr als zuvor der eisige Hauch von Frigon und Galatia.
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