Isau, Ralf
Gab es den? Über dem schmerzhaften Prickeln in seinen Beinen vergaß er die müßige Frage. Das Eis erinnerte ihn an das Kind im Nox-Keller. Wie Eure Zukunft aussieht, Herrscherin der Finsternis? Ihr werdet bestimmt genauso zur Unkenntlichkeit zermahlen und zermalmt enden wie Eure beiden Eiskätzchen Frigon und Galatia. Er atmete tief durch, um sich wieder zu beruhigen, und antwortete: »Wie kommt Ihr darauf, das ich Euch diese Frage beantworten kann?«
»Weil Ihr ein Menschenkind seid.«
»Ich ...?«
»Ihr habt die Hüter des Nox besiegt. Selbst ich hätte das nicht vermocht, obwohl sie durch meine Magie im Schiefergewölbe festgehalten wurden.«
»Was habt ihr vom Nox, wenn Ihr ihn selbst nie besuchen und bestaunen könnt?« wunderte sich Karl.
»Er wird mein Königreich im gleichen Glanz erstrahlen lassen wie vormals das der Kindlichen Kaiserin.«
Vormals? Karl ahnte Schreckliches. »Und wie soll das gehen?«
»Am Tag der Einweihung des Schwarzen Elfenbeinturms wird Xayíde, die Herrin von Schloss Hórok ... na, du weißt schon. Sie wird ganz Phantásien ihre Macht beweisen. Ursprünglich war vorgesehen, die beiden Hüter des Nox aus ihrer Pflicht zu entlassen – das ist ja nun hinfällig geworden. Dank deiner Hilfe, Menschenkind, wird sie die schwarze Hand selbst zur Spitze ihres Turmes tragen können und sie dort in die Magnolienknospe setzen, und ihr neues Schloss wird sich verwandeln. Der Nox wird es zu einem weißen Elfenbeinturm machen, größer und beeindruckender als der meiner schwachen Schwester.«
Damit war klar, was Xayíde tatsächlich vorhatte. Als Schwester der Kindlichen Kaiserin wollte sie nicht länger nur über ein paar Schlösser und Ländereien herrschen. Die Macht zu teilen, egal mit wem und in welchem Verhältnis, kam für sie nicht in Frage. Sie wollte alles. Ganz Phantásien. Dieser entsetzliche Gedanke entfachte neuen Kampfeswillen in Karl, der nach seiner Besinnungslosigkeit alles andere als erholt und ausgeruht war. Weisenkind ist nicht schwach! Sie wird dich in deine Schranken weisen. Mit kaum verhohlenem Abscheu sagte er: »In Euren Augen ist jeder Herrscher kraftlos, der den eigenen Untertanen nicht seinen Willen aufzwingt, nicht wahr?«
»Höre ich da einen vorwurfsvollen Unterton?«, spöttelte Edíyax.
»Wie kommt Ihr darauf, dass ich Euch bei der Verwandlung Eures schwarzen Turms helfe?«
»Du hast es schon getan.« Edíyax beugte sich zur Seite, und eine schwarze, überraschend kleine Ritterrüstung trat hinter dem Thron hervor. In seinen stählernen Gliederhandschuhen hielt der Panzerzwerg verschiedene strahlend weiße Gegenstände, die Karl sofort wiedererkannte. Es waren seine Handschuhe, deren Verlust er noch gar nicht bemerkt hatte, und der Beutel mit dem Nox. Xayídes Spiegelbild nahm von dem Diener zunächst die Handschuhe entgegen und ließ beide in seinen Schoß fallen, um sodann den linken überzuziehen. Dabei fielen Karl die erstaunlich langen Finger der Zauberin auf. Erst jetzt ließ sich ihr Spiegelbild, als fürchte es, das Tuch des Sackes allein hätte die Macht des Nox nicht bändigen können, den verhüllten Stein reichen. Ihn vor sich haltend und damit Karls Niederlage gleichsam betonend, erklärte Edíyax: »Die Jagd und selbst das Scheren von Albinoeinhörnern wird in fast allen Ländern Phantásiens mit Ächtung bestraft. Nicht, dass ich mich darum kümmern würde, aber es ist fast unmöglich, an Tuch heranzukommen, das aus diesem besonderen Haar gewebt worden ist. Ich hätte mich vermutlich an die Hehler von Kleptonia wenden müssen, um ein wenig davon zu bekommen. Dank deiner beherzten Tat blieb mir der Handel mit diesem Abschaum erspart.«
»Dann könntet Ihr mich ja jetzt wieder gehen lassen.«
»Ja, das könnte ich wohl.« Edíyax erhob sich von seinem Thron, stieg vom Podest und näherte sich gemessenen Schrittes seinem Gefangenen. In klaren Augenblicken konnte Karl auf dem gespiegelten Gesicht ein geheimnisvolles Lächeln sehen. Dann fiel sein Blick auf den zweiten Handschuh. Er hatte sich irgendwie in der Silberschließe von Edíyax' Gürtel verfangen und baumelte nun von ihm unbeachtet herab, ein seltsamer Anblick, weil das reinweiße Gewebe aus Einhorfihaar immer klar blieb, sosehr der Schemen zwischenzeitlich auch verschwimmen mochte. Karl versuchte nicht unentwegt auf den Handschuh zu starren.
»Ich bin in Eurer Hand, Edíyax. Wenn ich Euch eine offene Frage stelle, bekomme ich dann eine ehrliche Antwort?«
»Wärst du denn
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