Isau, Ralf
bereit, für meine Aufrichtigkeit einen Preis zu bezahlen?«
Karl schluckte. Was denn für einen Preis? »Ja«, antwortete er wider besseres Wissen.
»Also schön. Stelle deine Frage.«
»Seid Ihr es, die aus der Phantásischen Bibliothek Bücher stehlen und sie vernichten oder in eine andere Welt schaffen lässt?«
Das Spiegelbild begann um Karl herumzuschleichen. »Also deshalb ist ein neues Menschenkind zu uns herübergekommen! Der alte Meisterbibliothekar ist wohl mit dieser Aufgabe überfordert.«
Karl hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Anstatt den Bücherschwund aufzuklären, hatte er mit seiner Frage seine Beweggründe preisgegeben. Trotzig stieß er hervor: »Ihr schuldet mir noch die Antwort.«
Edíyax' Lippen schoben sich von hinten dicht an sein Ohr, und das Spiegelbild zischte: »Ich schulde dir überhaupt nichts.«
Die frostige Fessel wuchs bis zur Mitte von Karl Oberschenkeln empor. »Schon gut!«, stieß er beschwichtigend hervor. Am liebsten hätte er den Schemen am hübschen langen Hals gepackt und gewürgt. Noch waren seine Hände eisfrei. »Ich dachte, wir hätten eine Abmachung getroffen.«
Edíyax kam wieder vor ihm zum Stehen und grinste. Das rote und das grüne Auge tauchten wie zwei funkelnde Juwelen aus den verschwommenen Umrissen auf. »Also schön, mein kluges Menschenkind. Ich werde deinen Wissensdurst stillen. Das ist nur fair.« Der Schemen drehte sich zum Thron um und rief: »Büchsborg, das ist doch fair, nicht wahr?«
Wieder erschien die kleine schwarze Rüstung hinter der Lehne und nickte so eifrig, dass dabei das Visier mehrmals hochschwang und klappernd wieder herunterfiel. Karl holte tief Luft, ließ seine Hand vorschnellen, löste den weißen Handschuh von Edíyax' Gürtelschnalle und schob ihn in seine Manteltasche. Als sich das Spiegelbild zu ihm zurückdrehte, stand er wieder so da wie zuvor.
Edíyax sagte grinsend: »Nein.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht...«
»Du fragtest mich, ob ich etwas mit dem Verschwinden der Bücher in der Phantásischen Bibliothek zu tun habe, und ich antworte: Nein. Nicht das Geringste.«
»Vielleicht nicht du, das Spiegelbild, aber Xayíde.«
»Das ist Haarspalterei.«
»Möglicherweise ...« Eine kühne Idee flammte plötzlich in Karls vernebeltem Bewusstsein auf, wie ein nächtliches Leuchtfeuer. »Die Bücher bestehen aus Licht. Auch der Nox beeinflusst irgendwie die Natur des phantásischen Lichts. Vielleicht zerstört Ihr die Bücher damit.«
Wieder fing Edíyax an, um ihn herumzuwandern, als wäre Karl ein Rohling und es, das Spiegelbild, ein Bildhauer, der sich überlegte, wie er am geschicktesten eine Vorstellung aus seinem Kopf auf das Material übertragen sollte. Hörbar amüsiert erwiderte Edíyax: »Da sieht man mal, dass du das Wesen des Nox gar nicht verstanden hast, du kluges Menschenkind. Die schwarze Hand kann das Licht nicht nehmen. Dazu wäre schon eher der Lux geeignet.«
In Karls Kopf schien soeben eine Nussschale zu zerplatzen, an deren Inhalt er schon seit Tagen hatte herankommen wollen. Für einen Moment vergaß er sogar das Eis an seinen Beinen. »Der Lux? Was ist denn das?«
Edíyax lachte und schüttelte zugleich das rote Haupt. Es klang nicht einmal spöttisch. Eher wie eine Lehrerin, die sich über die Wissensabgründe ihres Schülers wundert. »Du versuchst den Nox zu stehlen, ohne den Lux zu kennen? Hat dir noch niemand die Geschichte der beiden Steine erzählt.«
»Nein. Aber könnt nicht Ihr sie mir erzählen, Edíyax?«
»Das ist dann aber mehr als die vereinbarte eine Frage. Ich hoffe, du bezahlst den Preis.«
Karl erinnerte sich, wie selbstbewusst Herr Trutz mit Elster verhandelt hatte, und erwiderte: »Ich stehe zu meinem Wort.«
»Also gut.« Edíyax lächelte auf eine unmöglich zu deutende Weise, und dann erzählte es die Geschichte der beiden Steine. »Vor langer Zeit kam ein Wesen nach Phantásien, das nicht aus der Äußeren, sondern aus einer anderen Welt stammte, deren Name verloren gegangen ist. Es hieß Gmork und besaß große Macht. Nicht, dass es zaubern konnte oder sonstwie mit magischen Fähigkeiten ausgestattet war. Seine Kraft speiste sich allein aus seiner boshaften, überaus großen Verschlagenheit. Gmork war das, was man in Phantásien einen ›Wanderer‹ nennt: Er konnte zwischen verschiedenen Welten hin und her wechseln, was seine Gefährlichkeit nur noch größer machte. Trotzdem fand er einen Meister: den Fünfgesichtigen Gogam. Der Fünfgesichtige
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