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Isau, Ralf

Isau, Ralf

Titel: Isau, Ralf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerry
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gesehen hatte. Also doch Frost, sagte sein wieder erwachter Verstand. Aber warum fühlt es sich wie eine Million glühender Nadelspitzen an ? Seine Augen erkundeten die Umgebung. Er befand sich in einem ziemlich großen Saal, dessen Grundriss die Form einer Linse oder einer an den Enden zugespitzten Ellipse hatte. Die Fresken an der Decke – überwiegend sah er dort Ungeheuer, die andere Ungeheuer zerfleischten – konnte er im Halbdunkel nur undeutlich ausmachen. Die Wände waren mit ähnlich verwirrenden Motiven verziert wie jene in der Empfangshalle, nur dass hier alles deutlich pompöser wirkte. Genau in der Mitte des Raums – dort, wo bei einem Auge die Pupille hingehörte – stand auf einem flachen Podest, umgeben von vier großen Feuerbecken, ein wuchtiger Thron aus roten Korallen. Karl blinzelte abermals, weil er die Person, die darin saß, nur verschwommen wahrnehmen konnte, so als sitze sie hinter einer schmutzigen Milchglasscheibe. Ab und zu wurde die Gestalt etwas klarer, dann verwischten sich ihre Konturen emeut. Offenbar saß in dem hochlehnigen Korallensessel eine große, schlanke, auf beängstigend kühle Weise schöne Frau.
    »Wer seid Ihr?«, wiederholte Karl seine Frage, diesmal mit mehr Ehrerbietung.
    Der Schemen wurde für einen Moment deutlich erkennbar. Die Frau lächelte geheimnisvoll. Sie war ungewöhnlich blass, was ihr schönes Gesicht wie aus Porzellan erscheinen ließ. Ihr hoch aufgetürmtes Haar hatte die Farbe eines Sonnenuntergangs und war mit silbernen Spangen, Juwelen, Zöpfen und Knoten fast genauso bizarr gestaltet wie die Fassade des Schwarzen Elfenbeinturms. In auffälligem Kontrast zur Frisur stand ihr langes, wallendes, fast schlichtes Gewand aus giftgrüner Seide. Beide Farben, die ihrer Haare und jene ihrer Robe, wiederholten sich in ihren Augen: Das eine war rot, das andere grün. Im nächsten Moment verschwamm der Schemen schon wieder und sah nur noch aus wie das düstere Werk eines trübsinnigen Impressionisten.
    »Ich bin Edíyax«, sagte die Frau auf dem Korallenthron.
    »Nie gehört.«
    »Noch eine solche respektlose Bemerkung und ich ...« Anstatt ihre Drohung auf zivilisierte Weise vorzubringen, ließ Edíyax die frostige Fessel um Karls Beine eine Handbreit höher wachsen.
    »Gnade!«, schrie er und wurde sofort leiser, als das brennende Eis zum Stillstand kam. »Verzeiht bitte, Edíyax. Ich dachte hier niemanden weiter anzutreffen als ein paar Bauarbeiter und Wachen.«
    »Ach, und deshalb glaubtest du mir den Nox getrost stehlen zu können?«
    »Bei allem Respekt, aber der Nox war im Besitz von Xayíde – obwohl sie nicht seine Eigentümerin ist.«
    »Ich bin Xayíde, die Herrin von Schloss Hórok, vom Schwarzen Elfenbeinturm, vom Garten Oglais, vom ...«
    »Und bald auch von Phantásien?« Karl biss sich auf die Unterlippe. Deine vorlauten Fragen bringen dich noch um Kopf und Kragen. Entgegen seiner Befürchtung wuchs das Eis jedoch nicht weiter.
    »Du bist ein schlauer Dieb«, sagte der Schemen einschmeichelnd. »Was weißt du noch über mich?«
    »Dass Ihr nicht wirklich Xayíde seid.«
    »Wer behauptet das?«
    »Ihr selbst. Hattet Ihr Euch nicht Edíyax genannt?«
    »Du musst noch viel über uns lernen, junges Menschenkind. Ich bin das Spiegelbild der Herrin von Schloss Hórok, vom Schwarzen Elfenbeinturm, vom ...«
    »Seid Ihr dann eigentlich weiblich oder eher ...?« Verkneif dir endlich deine dreisten Fragen, schalt sich Karl. Er hätte am liebsten mit dem Fuß aufgestampft, aber aus begreiflichen Gründen war ihm das nicht möglich.
    »Ob ich eine Dame bin?« Das Spiegelbild lächelte geheimnisvoll. »Eher andersherum.«
    Also ein Mann, dachte Karl. Oder... ? Er entschied sich, das Spiegelbild als Neutrum zu behandeln, und fragte: »Weshalb seid Ihr so verschwommen und schattenhaft?«
    Überraschend gereizt erwiderte Edíyax: »Du hättest mich früher sehen sollen! Oh, ich war makellos finster, ein perfektes Spiegelbild von Xayídes Seele. Aber in letzter Zeit mutet die Herrin mir viel zu. Der verdammte Stein nagt an mir und laugt mich aus. Genauso wie diesen ganzen Turm hier. Ich hoffe, er wird bald fertig sein, damit ich zur Herrin zurückkehren kann.« Schnell hatte das Spiegelbild sich wieder in der Gewalt und säuselte: »Sag mir, kluges Menschenkind, wie sieht meine Zukunft aus?«
    »Meint Ihr, die der Herrin von Hórok und besagten Liegenschaften oder Eure eigene?«
    »Gibt es denn da einen Unterschied?«
    Einen Augenblick lang war Karl verwirrt.

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