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Isegrim

Isegrim

Titel: Isegrim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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Temperatur auf siebenundzwanzig Grad im Schatten und trotz offener Fenster steht die verbrauchte Luft im Raum, denn draußen geht kein Wind.
    Endlich ist Zeugnisausgabe.
    Die Zeit, bis auch der Letzte sein Zeugnis in den Händen hält, kriecht wie eine Schnecke. Alle in unserer Klasse haben die BFL-Prüfungen bestanden. Nach den Sommerferien werden wir in Oberstufen-Kurse aufgeteilt, ich werde nicht mit Kai und Saskia in einem Kurs sein.
    Es klingelt zum Schulschluss, und als das Klingeln verstummt, hallt fröhliches Geschrei durch das gesamte Schulhaus. Aus den Klassenzimmern strömen Schüler, rempeln sich an und lachen und stolpern wie bekifft dem Ausgang entgegen. Nur raus hier, denke ich. Endlich frei – für ganze sechs Wochen.
    Diesmal bin ich dabei, als wir im »La Gondola« den Ferienbeginn mit einem Eisbecher feiern.
    Â»Kommst du nachher mit zum See?«, fragt Kai, als wir später von der Bushaltestelle nach Hause laufen.
    Â»Weiß noch nicht«, murmele ich.
    Er fasst nach meiner Hand. »Hey, du hast wohl den Schuss nicht gehört: Es sind Ferien, Jo. Was ist nur los mit dir? Habe ich irgendetwas gesagt oder getan, was dich gekränkt hat?«
    Ich schüttele den Kopf, muss schlucken, kann ihn nicht ansehen. Meine Kehle brennt und ich schäme mich. Ich muss es ihm endlich sagen, alles andere ist unfair.
    Â»Ist es immer noch wegen diesem dämlichen Zeitzeugenbericht?«
    Ich zucke mit den Achseln. Eine wortlose Lüge. Kai kommt überhaupt nicht auf die Idee, dass ich mich in einen anderen verliebt haben könnte. Er vertraut mir blind und ich habe dieses Vertrauen missbraucht. Wenn du wüsstest, Kai. Wenn du wüsstest, dass in unserem Wald eine Wölfin jagt und ihren Nachwuchs aufzieht. Wenn du wüsstest, dass Olek dort draußen in einer Höhle lebt, der polnische Elf, der mein Herz im Sturm erobert hat. Olek, der Dieb, der dir nicht nur dein Lieblings-T-Shirt, sondern auch deine Freundin gestohlen hat. Der in seiner Höhle sitzt und Lektionen der Liebeskunst lernt, weil er alles richtig machen will.
    Vor der Einfahrt zum Hof der Hartungs steht ein alter Kombi mit Berliner Kennzeichen. »Oh nein«, stöhnt Kai auf. »Johanna und Elli sind schon da. Eigentlich wollten sie erst am Sonntag kommen.« Er seufzt. »Das mit dem See hat sich wohl für heute erledigt. Ich kann es nicht glauben, dass ich diesen kleinen Satansbraten jetzt drei Wochen lang am Bein habe.«
    Danke, Johanna, denke ich, als ich wenig später kräftig in die Pedale trete, um zu Olek zu kommen. Ich kann es kaum erwarten, ihn wiederzusehen, auch, wenn es nur für eine Stunde sein wird. Vielleicht werden wir in der Sonne sitzen und reden, vielleicht besuchen wir die Wölfin und ihren Nachwuchs. Vielleicht werfen wir aber auch einen Blick in Tante Lottas Buch der Liebeskunst und lernen zusammen eine weitere Lektion.
    Ich bin so glücklich, dass die Euphorie das schlechte Gewissen in den Hintergrund drängt.
    In der Nähe der Höhle gibt es ein verstecktes Plätzchen: von drei Seiten schützender Fels und weiches Gras, in dem man liegen und träumen kann. Olek liegt mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und kaut auf einem Grashalm herum. Sein nackter Oberkörper glüht in der Sonne. Ich sitze neben ihm und studiere seine Rippenbögen unter der sonnenbraunen Haut, die flachen, schlanken Muskeln, die feine Linie blonder Härchen unter seinem Bauchnabel, die unter dem Hosenbund verschwindet. Er hat überall am Körper kleine Narben, helle Zeichen, die etwas erzählen. Nur was?
    Ãœber Oleks Vergangenheit weiß ich noch immer so gut wie nichts. Ihn danach zu fragen, ist vergebliche Liebesmüh, sein Blick kehrt sich jedes Mal nach innen und ich kann spüren, dass irgendwo tief in ihm ein wilder Schmerz lauert. Er wirkt dann verkrampft und verschlossen, deshalb habe ich aufgehört zu fragen.
    Ich lege mich neben ihn. »Was heißt Schwalbe auf Polnisch?«
    Â»Jaskólka.«
    Â»Und Fuchs?«
    Â»Lis.«
    Â»Eule?«
    Â»Sowa.«
    Â»Ich liebe dich?«
    Â»Kocham cie.« Olek beugt sich lächelnd über mich und küsst mich.
    Â»Ich dich auch.«
    Seine graugrünen Augen blicken sanft und ich frage mich, was sie schon alles gesehen haben. Woher rührt die Trauer, die stets in seinem Lächeln mitschwingt? Was sind die geheimen Gedanken hinter Oleks Blick?
    Nach seiner Vergangenheit kann ich

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