Isegrim
Ruhe bittet, damit er den Abend eröffnen kann, erstirbt das wilde Gemurmel im Schankraum. Pa bedankt sich, dass so viele gekommen sind, um etwas über den neuen Nachbarn auf dem Truppenübungsplatz zu erfahren und anschlieÃend darüber zu diskutieren, wie man am besten mit der schwierigen Situation umgehen kann.
»Da gibt es nichts zu diskutieren«, ruft Bernd Hartung in den Saal. »Es gibt nur eine Möglichkeit, mit dieser blutrünstigen Bestie umzugehen.« Mit Daumen und Zeigefinger imitiert er eine Knarre und erntet prompt von vielen Seiten Zustimmung.
»Bernd«, sagt mein Vater, »bitte lass mich erst einige Dinge erklären, bevor du mit deinen emotionsgeladenen Ansichten kommst.«
Hartung winkt verächtlich ab.
Pa erzählt den Leuten, dass sich die Wölfe langsam wieder in Deutschland ausbreiten, ganz von allein. Dass sie streng geschützt sind, genauso wie ihr Lebensraum. Dass das Zusammenleben von Wolf und Mensch in der Lausitz schon seit Jahren gut funktioniert und dass es für Schäfer sichere Möglichkeiten gibt, Wolfsübergriffe auf ihre Tiere abzuwenden.
Trotz gelegentlicher bissiger Zwischenrufe hält er sich wacker und ich bin stolz auf meinen Vater. Er hat seine Hausaufgaben gemacht.
Gernot Schlotter und seine Frau zapfen Bier und bedienen die Leute. Der Wirt schüttelt hin und wieder verständnislos den Kopf über Pas Ausführungen, sagt aber nichts.
SchlieÃlich beginnt die Fragestunde.
»Wie groà ist denn der Appetit eines Wolfes?«, will die Pfarrersfrau wissen.
»Ein ausgewachsener Wolf braucht ungefähr vier Kilo Fleisch am Tag.«
Kollektives Aufstöhnen im ganzen Saal.
»Na, dann wirst du bald nichts mehr vor die Flinte bekommen, Falk«, bemerkt Trefflich.
»Das ist gar nicht so viel, wie es sich im ersten Moment anhört. Ein normales Wolfsrudel â Elternpaar, Welpen und drei oder vier Jungwölfe â frisst ungefähr ein Reh am Tag. Dazu kommen noch ungefähr zwei Rehe und zwei Sauen pro Woche.«
»Und wie viele Hühner, Katzen und Schafe?«, fragt Kai.
Gelächter und Murren zugleich.
»Wölfe ernähren sich in der Regel von Rehen und Wildschweinen, aber sie begnügen sich auch mit Fallwild und Mäusen. Eine ungesicherte Schafherde ist natürlich â¦Â«
»Wieso ein Wolfsrudel?«, unterbricht Bernd Hartung meinen Vater erbost. »Ich denke, da ist nur ein Wolf?«
Pa wirft mir einen kurzen, um Verzeihung bittenden Blick zu, bevor er sagt: »Wir wissen inzwischen, dass es eine Wölfin ist, die mit ihren Welpen auf dem Truppenübungsplatz lebt. Also kann man durchaus von einem Rudel sprechen.«
Erna Euchler schreit auf vor Ãberraschung über diese Offenbarung und ich sehe, dass die Touristin aus dem Ferienhaus die Hände vor den Mund geschlagen hat. Auf einmal reden alle laut durcheinander. Pa kämpft um Ruhe.
»Es gibt offenbar keinen Rüden und die Wölfin hat Probleme, ihre Jungen allein durchzubringen. Ich vermute, deshalb sie sich so nah ans Dorf gewagt und Schafe gerissen.«
»Wenn sie alleinstehend ist und Probleme hat, ihre Racker durchzubringen, soll sie doch Hartz IV beantragen«, ruft Gernot Schlotter hinter der Theke hervor. »Der ganze Wolfshokuspokus wird sowieso von unseren Steuergeldern bezahlt.«
»Sei doch froh, Gernot, dass die Wölfin ausgerechnet bei uns sesshaft geworden ist«, mischt sich Frau Färber ein. »Wenn das erst überall in der Zeitung steht, werden die Wolfstouristen in Scharen in unser Dorf einfallen und die Gästezimmer und dein Wirtshaus füllen.«
»Da ist was dran.« Die Augen des Bürgermeisters leuchten. »Die Anwesenheit eines frei lebenden Wolfsrudels wird Neugierige in unser Dorf locken.«
Aha, der Bürgermeister auf der Pro-Seite. Na, wenn das nichts ist.
»Dann istâs vorbei mit der Ruhe in unserem schönen Dorf«, krächzt Tonia Neumeister.
»Na, das dürfte dir doch gefallen«, stellt ein zahnloser Alter trocken fest und einige der um ihn herum Sitzenden lachen.
»Können wir noch Pilze und Beeren sammeln im Wald?«, will Clemensâ Mutter wissen. »Oder müssen wir von jetzt an Angst haben?«
»Nein«, antwortet Pa. »Wölfe sind extrem scheue Tiere, sie meiden Menschen, wo sie nur können. Die Wölfin muss seit Januar da sein und niemand hat sie bisher bemerkt, nicht mal der
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