Isegrim
im Hausputz. Sie hat am Samstag Geburtstag und erwartet zwei (!) Gäste. Einen gemeinsamen Jugendfreund von Pa und ihr und Tante Lotta. Dafür muss das Haus blitzblank sein, als ob es das nicht ohnehin immer wäre.
Ãberall riecht es nach künstlicher Frühlingswiese. Ich hasse den Geruch und ich hasse putzen, doch ich biete mich freiwillig an, das Gästezimmer herzurichten und das obere Bad zu wischen. Und weil ich einmal dabei bin und es der einzige Raum im Haus ist, der es wirklich nötig hat, putze ich auch mein Zimmer.
Trotz all dieser Ablenkungsversuche gehen mir der Junge und sein Hund nicht aus dem Kopf. Und plötzlich passiert es: Mein Unterbewusstsein verknüpft sich mit dem Verstand. Es prickelt in meinen Adern, Aufregung durchflutet mich. Ist das wirklich möglich? Was für ein tollkühner Gedanke! Habe ich heute früh im Wald keinen wildernden Hund, sondern einen jagenden Wolf gesehen?
Als Kind war ich Dauergast im Gothaer Tierpark. Die Wölfe hatten es mir besonders angetan. Stundenlang konnte ich vor den veralteten und viel zu kleinen Käfigen ausharren in dem Versuch, mit den Tieren durch Blicke und leise Worte Kontakt aufzunehmen. Sie faszinierten mich und taten mir gleichzeitig leid. Wer will schon auf nacktem Beton hinter Gittern leben?
Inzwischen gibt es ein neues Wolfsgehege mit mehr Auslauf (letzten Sommer war ich mit Kai und seiner Nichte Elli dort), aber Käfig bleibt Käfig.
Vielleicht ist ja ein Wolf aus dem Gehege entkommen und hat sich auf dem Truppenübungsplatz niedergelassen. Nein, das kann nicht sein, mein Vater wäre längst informiert und die Zeitungen unter dem Motto »Bestie streift über den Seeberg« voll davon.
Aber einmal im Kopf, kann ich mich von dem Gedanken nicht mehr lösen: Der Schäferhund im Wald sieht den Wölfen im Tierpark verdammt ähnlich.
Ich stelle meinen Laptop an und ich bin ganz hibbelig, während er hochfährt. Seit fast zwei Jahren opfere ich drei Euro monatlich von meinem Taschengeld für eine Mitgliedschaft in der WWF-Jugend und stöbere regelmäÃig auf den Internetseiten des NABU, um immer auf dem Laufenden zu sein, welche Tiere auf der Liste der bedrohten Arten stehen. Natürlich ist mir dabei nicht entgangen, dass sich in den letzten fünfzehn Jahren wieder Wölfe in der Lausitz angesiedelt und vermehrt haben. Aber auf den Gedanken, einer könnte sich in meinen Wald verirrt haben, bin ich schlichtweg nicht gekommen. Heute war ich mir so sicher, dass der Schäferhund diesem Olek gehört.
Ich logge mich ins Internet und rufe Google auf. Zum Thema »Wölfe in Deutschland« gibt es fast dreitausend Einträge. In der nächsten Stunde lese ich viel, was ich bereits weiÃ: 1904 hat man dem letzten Wolf in Deutschland den Garaus gemacht, seitdem gilt Isegrim als ausgerottet. Zu DDR-Zeiten kamen zwar hin und wieder Wölfe aus Polen nach Deutschland, sie wurden jedoch meistens gleich von Jägern erschossen. Inzwischen stehen Wölfe in Deutschland unter strengem Schutz. Erst seit einigen Jahren haben sie sich in der Lausitz wieder angesiedelt und vermehrt. Wölfe sind Langstreckenwanderer, auf der Suche nach neuen Revieren durchstreifen sie oft unbemerkt die Wälder Deutschlands.
In einem Artikel steht: Nutztierhalter und Jägerschaft zeigen sich wenig begeistert von Isegrims Rückkehr. Die einen fürchten um ihre Kühe, Schafe und Ziegen, die anderen meinen, der Wolf fresse ihnen das Jagdwild weg. Obwohl der Wolf in Deutschland streng geschützt ist, kommt es immer wieder vor, dass Jäger auf Wölfe schieÃen, weil sie meinen, einen wildernden Hund vor sich zu haben.
Oh nein, sofort muss ich an Trefflich denken.
Ein paar Klicks später weià ich auch eine Menge Neues: Dass es derzeit wieder rund hundert frei lebende Wölfe in unserem Land gibt, von denen die meisten in Sachsen und Brandenburg leben. Aber auch in Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Bayern und Niedersachsen gibt es Wolfsrudel. Einige Wolfsexperten meinen, es sei nur eine Frage der Zeit, bis sie auch in Thüringen auftauchen werden.
»Irre«, flüstere ich begeistert und klicke mich weiter.
Wölfe können an einem Tag bis zu siebzig Kilometer zurücklegen. Im vergangenen Jahr wurde ein einzelner Rüde im Eichsfeld gesichtet, ein weiterer lebt derzeit im Reinhardswald in Hessen. Nachdenklich schaue ich mir verschiedene Wolfsfotografien an. Ich
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