Isenhart
der Vagina stieß er auf ein gefurchtes, rosarotes Gewebe, das von kreisförmigem Aufbau war. Obwohl es seine erste bewusste Begegnung mit einem Jungfernhäutchen war, konnte Isenhart es doch als solches bestimmen. Und soweit er es beurteilen konnte, war es intakt.
Der Mörder hatte sie nicht defloriert und daher nicht missbraucht.
Sein einziges Interesse hatte dem Herzen gegolten. Wie bei Anna. Und wie bei Anna stellte sich sofort die Frage: Wozu?
Was lag ihm an dem Herz?
Als Kind hatte Isenhart einmal einen Stock in den Fluss gehalten und mit Erstaunen festgestellt, wie das Holz unterhalb der Wasseroberfläche jäh eine andere Richtung annahm, ganz so, als wäre es an dieser Stelle angebrochen. Doch als Isenhart den Stock aus dem Wasser zog, war er intakt und gerade.
Es war neben den Bäumen, die das Laub abwarfen, das zweite Mysterium der Natur, auf das er stieß. Während er im Laufe der Jahre eine – ihn befriedigende – Erklärung für die absterbenden Blätter fand, blieb ihm das Phänomen des jäh gebogenen Stockes weiterhin ein Rätsel.
Eines aber spürte er damals, an diesem Tag, an dem er den Stock an die hundert Male ins Wasser schob und wieder hervorzog, eswar ein zwiespältiges Gefühl. Ihm wurde die Begrenztheit seiner Intelligenz bewusst, der enge Raum, einem Käfig gleich, in dem sie auf und ab schritt, in dem sie jeden Winkel kannte und doch nur einen einzigen Tropfen des Ozeans erfasst hatte.
Das war niederschmetternd, denn seine Lebensjahre würden nicht ausreichen, das Meer des Wissens zu erschließen. Andererseits – woher auch immer diese Gewissheit herrührte – war Isenhart felsenfest davon überzeugt, für die Krümmung des Stocks eine Erklärung zu finden. Nicht gleich, denn er war noch ein Kind. Aber ganz gewiss innerhalb der Lebensspanne, die der Herrgott für ihn vorgesehen hatte.
Daran erinnerte er sich, während er neben dem Leichnam der unglücklichen Wirtstochter kniete. Das Bedürfnis des Mörders nach dem Herzen erschloss sich ihm nicht, aber er war sich sicher, innerhalb der Zeit, die ihm gegeben war, eine Antwort darauf zu finden.
Beurteile nichts, bevor du es nicht von allen Seiten betrachtest hast.
Das waren Walthers Worte gewesen. In einem anderen Zusammenhang, sicher. Aber sie waren auch auf diese Situation anwendbar, denn Isenhart befand sich noch immer auf der Suche nach der todbringenden Verletzung. Endete sie erfolglos, würde sich damit der Stich ins Herz als die zwingende Erklärung bewahrheiten.
Also wendete er die Tote, sodass sie nun auf dem Bauch lag. Ein Blick genügte, um die Unversehrtheit ihres Rückens festzustellen. Kein getrocknetes Blut im Leinen wies auf eine Stichwunde hin, die zum Tod geführt hatte.
Nur ein Fleck an ihrem Haaransatz ließ Isenhart stutzen. An dieser Stelle war das blonde Haar eine Spur dunkler. Nass. Vorsichtig fuhr er der Toten mit zwei Fingern durchs Haar und spürte, wie seine Haut dabei benetzt wurde. Er führte sie zur Nase und atmete einen eigenartigen Geruch ein.
Er war frei von Salz, weshalb es sich nicht um Schweiß handeln konnte. Und die Feuchtigkeit auf Isenharts Finger war transparent. Dieser Umstand ließ ihn wie das Fehlen von Eisengeruch auch Blut als Quelle ausschließen.
Wasser vielleicht?
Aber woher sollte es stammen? Das Stroh war knochentrocken, ebenso das Dach des Stalls, es hatte seit Tagen, vielleicht Wochen nicht mehr geregnet. Also unterzog er den Haaransatz der Leiche einer näheren Betrachtung. Sanft strich er das Haar an jener Stelle zu beiden Seiten, um den Ursprung der Feuchtigkeit zu entdecken. Er stieß auf zwei winzige, schwarze Löcher in Liliths Schädeldecke. Etwa drei Fingerbreit oberhalb des Haaransatzes, genau dort, wo der Hinterkopf eines jeden Menschen zu seiner auffälligsten Wölbung neigte.
Die Löcher befanden sich in symmetrischer Anordnung. Isenhart griff nach einem Strohhalm und führte ihn sehr langsam in das linke Loch ein. Es dauerte nicht lange, bis er auf leichten Widerstand stieß. Dabei trat wieder Flüssigkeit aus.
Jäh zuckte das Bild des Brabanzonen durch seinen Kopf, den er in Sophias Kammer erschlagen hatte, den Riss im Kopf des Mannes, durch den die gräuliche Masse trat – das Gehirn.
Isenhart schluckte, er zog den Halm zurück.
Die beiden Löcher waren kreisrund. Bei einem Sturz, folgerte Isenhart, hatte Lilith sich diese Verletzung nicht zugezogen, dafür wirkten die Frakturen mit ihren nahezu glatten Rändern zu unnatürlich. Der Täter,
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