Isenhart
waren – bis auf die rechteckigen Einrisse – von einer solchen Gradlinigkeit, dass sie ohne Unterbrechung durchgeführt worden sein mussten. Zu diesem Zeitpunkt konnte Lilith sich also nicht mehr gewehrt haben, ansonsten wäre Isenhart eher auf einen unruhigen Verlauf gestoßen.
Da war sie schon tot.
Isenhart beugte sich tief hinab und inspizierte die Verletzung. Sofort begann der Würgereiz, ihm den Hals hinaufzukriechen.
Er rief sich jene Nacht an der Glems ins Gedächtnis, als er sich beim Abrollen vom Pferd das Knie gestoßen und der Schmerz ihm eigentlich den Gang auf den Steg verweigert hatte. Damals war es ihm gelungen, den pochenden Schmerz einfach beiseitezuschieben. Und so hielt er es nun auch mit dem Würgereiz. Er zwang seinen Geist, den Körper Liliths nicht wahrzunehmen, die Tatsache eines Mordes auszublenden und sich ganz allein der Beschaffenheit der Verletzung zu widmen.
Drei Rippenstücke fehlten. Isenhart inspizierte die Schnittränder. Die Unregelmäßigkeit, die er an den Schnittkanten vorfand, sprach gegen eine ungezackte Klinge. Als Schmied hatte er ein recht genaues Bild davon, womit man dieses Schnittmuster zu erzeugen in der Lage war: mit einer einblättrigen Säge.
Durch das Loch, das der Mörder damit verursacht hatte, passte die Faust eines Mannes. Unterhalb der Rippenbögen stieß Isenhart auf ein Wirrwarr aus Muskeln, Sehnen, Blut und Organen, deren glatte Oberflächen von tiefrot bis violett-blau schimmerten. Hier war er mit seinem Latein am Ende.
Isenhart hatte keinerlei Vorstellung von dem genauen Aussehen eines Herzens. Es war Gottes Kindern aufs Strengste verboten, sich ein Bildnis ihres vom Allmächtigen entworfenen Inneren zu machen. Ganz zu schweigen von den Vorgängen, die sich dort abspielten.
Doch die Größe und Stoßrichtung der äußeren Verwundung wie auch der Durchbruch der Rippenbögen wies auf das Herz hin. Exakt derselbe Umstand, auf den Walther von Ascisberg bei der Untersuchung von Annas Leichnam gestoßen war. Nur, dass damals kein Horizontalschnitt durchgeführt worden war und der Täter die Rippenbögen mit einem schweren Gegenstand – einem Stein etwa – aufgebrochen haben musste.
Das Surren der Fliegen, die sich ein ums andere Mal vorwagten, zehrte an Isenharts Konzentration. Er ließ von der Wunde ab und stand auf. Ihm war schwindelig.
»Können wir sie jetzt beisetzen?«, fragte Kuntz.
Isenhart schüttelte den Kopf. Eines hatte er noch vergessen. Also kniete er sich vor das tote Mädchen und drückte ihre Beine ein wenig auseinander. Danach warf er ihr das Kleid zurück und war froh, es ohne Unterbekleidung zu finden.
Plötzlich spürte Isenhart eine kräftige Hand auf seiner Schulter.
Es war Haintz, dessen Gesichtszüge äußerst gespannt waren. »Was macht Ihr da?«
»Ich untersuche den Schoß deiner Tochter«, gab Isenhart so sanft wie möglich zurück, »und ich werde mir …«
Weiter kam er nicht. Der Wirt riss ihn mit einem tierischen Brüllen hoch, packte ihn, und sie beide stolperten und krachten zu Boden. Die Hühner stoben gackernd davon.
»Nichts wirst du!«, brüllte Haintz, und in seiner Stimme entlud sich all sein – monetär begründetes – Leid über den Verlust der Tochter.
Zwei kräftige Hände hoben ihn mit spielerischer Leichtigkeit empor und warfen ihn so schwer gegen die Wand, dass das Stroh aus dem darüberliegenden Stockwerk herabrieselte und Haintz kurz der Atem geraubt wurde. Es war Konrad, der sein Gesicht sehr nah an das des Wirtes führte. Sein Unterkiefer zitterte unkontrolliert. Isenhart war erst wenige Male Zeuge dieses Phänomens gewesen, das einen unmittelbar bevorstehenden Gewaltausbruch ankündigte.
Das aber mit biblischer Sicherheit. Dies schien nun auch Haintz zu spüren, der ergeben die Arme sinken ließ, weil er sich diesem Wachmann aus Spira nicht gewachsen fühlte.
»Mein Freund wird jetzt untersuchen, ob sich jemand an deiner Tochter vergangen hat«, sagte Konrad mit vor Wut vibrierender Stimme, »und wenn du ihn noch einmal anfasst, brech ich dir die Hände.«
Dann wandte er sich von Haintz ab, der erbleicht an der Wand stehen blieb.
Isenhart fühlte sich unweigerlich an seine eigene Reaktion erinnert, als Walther von Ascisberg sich damals, vor fünf Jahren, darangemacht hatte, den Intimbereich Annas zu inspizieren.
Aus der Scheide des Mädchens war kein Blut ausgetreten. Wie es einst sein Mentor getan hatte, spreizte nun auch Isenhart das Geschlecht der Wirtstochter. Am Eingang
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