Isenhart
unversehrt. Anna dagegen hatte man die Kehle durchtrennt.
So weit, so gut. Aber was sollte er als Nächstes tun?
Isenhart spürte die Blicke der anderen in seinem Nacken. Er wünschte, Walther wäre hier, um das Heft in die Hand zu nehmen. Er hätte ganz sicher gewusst, was nun zu tun war.
»Und jetzt?«, fragte der Wirt.
»Jetzt gehen alle hinaus, die mit dem armen Mädchen nicht verwandt sind«, sagte Isenhart eine Spur bestimmter, als er es beabsichtigt hatte.
»Es sei denn, jemand kann eine Aussage darüber machen, wie sie zu Tode kam«, fügte Konrad hinzu.
Natürlich, dachte Isenhart. Das hatte er vergessen. Aber der dritte Mann wandte sich ab und verließ den Stall.
»Ich habe manchmal mit Lilith die Gäste bedient«, sagte die Frau, die eine Leinenhaube trug und deren Gesicht eine exakte Einschätzung ihrer Lebensjahre erschwerte. Sie konnte ebenso dreißig wie fünfzig Jahre alt sein. Offensichtlich war lediglich, dass sie nach einem Vorwand suchte, der ihre Anwesenheit bei der weiteren Untersuchung legitimierte. Im Dorf würde es später einiges zu erzählen geben, und über je mehr Details sie Kenntnis erlangte, desto intensiver und andauernder würde das Interesse all der anderen an ihrer Person ausfallen.
»Weißt du etwas darüber, wie sie zu Tode gekommen ist, Weib?«, fragte Konrad, dem Tratsch schon von Kindesbeinen an zuwider war – mit Ausnahme der Geschichten über tollkühne Krieger, versteht sich.
»Nein, aber ich …«
»Dann troll dich«, wies Konrad sie an.
Die Frau warf ihm einen bösen Blick zu, den Konrad mit einem leichten Lächeln quittierte, bevor auch sie den Stall verließ.
»Du bist der Vater«, wandte Isenhart sich an den dicklichen Wirt, um etwas Zeit zu gewinnen.
»Ich bin Haintz«, antwortete der Mann selbstbewusst, »ich führe das Gasthaus. Und das hier«, er deutete mit einer leichten Kopfbewegung zu dem jungen Mann neben sich, »ist mein Sohn Kuntz.«
Isenhart sammelte sich. Er wusste nun zumindest, wo er ansetzen konnte, und das verlieh ihm ein wenig Sicherheit. Verifizieren hatte Walther von Ascisberg die Methode genannt.
Es lag in der Natur der Menschen, ein und denselben Hergang einer Begebenheit unterschiedlich wiederzugeben. Einige vermochten nicht, sich jeder Kleinigkeit zu entsinnen, andere wiederum ließen persönliche Wertungen in ihre Schilderung mit einfließen, die den puren Sachverhalt verwässerten. Und dann gab es noch jene, die ein vitales Interesse daran hatten, den Wahrheitssuchenden durch eine falsche Aussage in die Irre zu führen. In diesem Fall der Täter.
»Kuntz«, wandte sich Isenhart daher an den Sohn, »hast du schon einen Blick in die Stube deiner Schwester geworfen?«
Der junge Mann schüttelte den Kopf.
»Dann sieh nach, ob du dort etwas Ungewöhnliches findest – oder ob sich alles wie immer verhält. Vielleicht war der Mörder in ihrem Zimmer.«
Der junge Mann war offenkundig froh, etwas zur Klärung des Verbrechens beitragen zu können. Er nickte und machte sich rasch auf den Weg.
Als seine Schritte verhallten, sah Isenhart Haintz an, der immer noch den leeren Milcheimer in der Hand hielt. Isenhart wollte den Anblick nicht werten, denn er war ja gerade beim Verifizieren, aber es gelang ihm nicht, sein Herz vor dem Bild der Hilflosigkeit, das der Mann abgab, zu verschließen. »Was ist passiert?«
»Meine Lilith wurde ermordet – das seht Ihr doch.«
»Das meinte ich nicht. Wer hat sie gefunden?«
»Na, ich.«
»Und wann?«
»Zur sechsten Stunde«, gab der Mann zur Antwort.
Als sie das Wirtshaus passierten, hatte es zur neunten Stunde geschlagen. Haintz war also vor drei Stunden auf die Leiche seiner Tochter gestoßen.
»Hast du sonst jemanden bemerkt?«
Haintz schüttelte betrübt den Kopf.
»Was hatte Lilith hier zu suchen? Sollte sie das Kleinvieh füttern?«
»Eine meiner Kühe ist trächtig. Wir dachten, sie würde heute Nacht kalben. Deswegen hat Lilith sich hier ein Lager eingerichtet. Um zur Stelle zu sein, wenn es so weit ist.«
Das war eine einleuchtende Erklärung.
»Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?«, mischte Konrad sich ein und nahm damit die Frage vorweg, die Isenhart auf der Zunge lag.
»Um Mitternacht, da hab ich noch mal nach dem Rechten gesehen und ihr eine Kerze gebracht.«
Sofort hielt Isenhart danach Ausschau und entdeckte die erwähnte Lichtquelle nur sechs Fuß neben dem Leichnam.
»Eine frische Kerze?«
»Was?«
»Hast du ihr eine frische Kerze
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