Isenhart
Toraschreins, der in der Apsis des kleinen Steinbaus stand. Isenhart wusste, dass die Torarollen nach Jerusalem ausgerichtet waren, also nach Osten. Vor allem aber hatte er Kenntnis vom Umfang der Tora, die über sechshundert Gebote aus den fünf Büchern Mose bewahrte.
Anders als befürchtet beendete Simon alsbald sein Gebet, wandte sich um und erkannte Isenhart sofort. Ein freundliches Lächeln glitt über sein Gesicht, das nicht der Höflichkeit entsprang, sondern dem Herzen.
Ohne Widerrede zu dulden, führte er die beiden um die Ecke in eine Schenke, die bis auf den letzten Platz besetzt und deren Luft von Schweiß, Braten und Urin geschwängert war. Kaum erschienen sie dort, setzte der Wirt zwei Gäste an die Luft und überließ dem Juden samt seinen Begleitern den besten Tisch.
Weder war er jemals einem Aberak von Annweiler begegnet noch hatte er je von diesem Mann gehört, wie Simon Rubinstein sie zwischen zwei Zügen aus dem mit Wein gefüllten Zinnbecher wissen ließ. Der Wirt hatte den Wein gekeltert, weshalb er nicht trefe, also unrein, sondern koscher war, wie die Juden das nannten.
Isenhart und Henning waren für einen Moment enttäuscht. Davon abgesehen fand Henning Gefallen an diesem weltgewandten Mann, der schon quer durch Europa gereist war, und Simon, der es durch seine Stellung innerhalb der jüdischen Gemeinde gewohnt war, im Mittelpunkt zu stehen, erteilte bereitwillig Auskunft. Er war kein Mann, der die Beachtung seiner Person nicht wertschätzte.
Isenhart beobachtete Henning dabei von der Seite, da er die Fragen, die dem Sohn des Medicus über die Lippen gingen, in den letzten Jahren bereits allesamt ausführlich beantwortet bekommen hatte. Und so erkannte er in der Wissbegier dieses jungen Mannes, dessen Bekanntschaft er erst vor einigen Stunden gemacht hatte, seine eigene wieder. Die Augen, die zu leuchten schienen, die schnellen Querverweise seiner Fragen auf das vor über einer halben Stunde Gehörte, sein Lachen, bar jeder Eitelkeit, wenn Simon Rubinstein ihn berichtigte.
Mit der Zeit leerte sich die Schenke, in einer Ecke waren zwei Männer über ihrem Tisch eingeschlafen, und auch bei Isenhart machte sich langsam der lange Tag bemerkbar, der ihm in den Knochen saß.
Hinzu kam, dass Simon Rubinstein soeben begonnen hatte, die Geschichte von Graf Emicho auszubreiten. Und dann stutzte. »Seid Ihr auch Jude?«, fragte er unvermittelt.
Henning schüttelte den Kopf: »Leider nicht.«
»Niemand ist vollkommen«, tröstete Rubinstein ihn mit einem breiten Grinsen, das seine vier Zahnlücken offenbarte.
Henning lachte mit einer Herzlichkeit, die Isenhart und dem Juden keine andere Wahl ließ, als darin einzustimmen.
Als sie sich ein wenig beruhigt hatten, nahm Simon den jungen Mann ins Visier:
»Ich langweile Euch mit alten Geschichten und habe Euch obendrein kaum zu Wort kommen lassen. Die Geschwätzigkeit eines Greises, habt Nachsicht.«
»Greis? Ich bin selten einem flinkeren Verstand begegnet.«
»Sehr freundlich. Ich bin 61 oder 62 Jahre alt. Eigentlich sollte ich nicht mehr sitzen, sondern schon liegen.«
Er lachte über seinen Scherz, und Isenhart war erfüllt von dem Neid auf die Leichtigkeit, mit der Simon Rubinstein die zeitliche Begrenztheit seines Daseins auf Erden akzeptierte. Und sie sogar zum Anlass für einen Scherz nahm.
»Erzählt mir von Euch«, fügte Simon hinzu.
Auf diese Weise erhielt Isenhart Antworten auf jene Fragen, die ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht über die Lippen gekommen waren.
Hennings Mutter war bei seiner Geburt gestorben – so wie Isenharts –, und er wuchs bei seinem Vater auf, einem Bader, der Körner vermischt und sie mit feuchtem Leinen auf Wunden gelegt hatte, bis ihm das nicht mehr genügte und seine Neugier ihn bis in den Orient trieb, wo er in Jaffa die Kunst der Kräuterheilkunde erlernte.
»Sie sind uns voraus, diese Muselmanen, nicht wahr?«, fragte Simon Rubinstein in einer Mischung aus Bewunderung und Bedauern.
»Um Welten«, bestätigte Henning.
Im Schlepptau seines Vaters hatte er Teile des westlichen Frankenreichs kennengelernt und in Ansätzen auch die Heilwirkung der Kräuter, die er allerdings als eine »Wissenschaft für sich« bezeichnete. So gab es Kombinationen, die bei dem einen Patienten zur Heilung führten und bei dem anderen den Krankheitsverlauf beschleunigten. Noch, so formulierte Henning es, stecke die Kräuterheilkunde in den Kinderschuhen. Sein Vater experimentiere mit Tausenden vonKombinationen, im
Weitere Kostenlose Bücher