Isenhart
»Und mit ein wenig Glück finden wir einen Hinweis darauf in der Registratur der Stadt.«
Henning und Walther von Ascisberg sahen sich fragend an. Wie – um Himmels willen – kam der Junge darauf?
»Warum essen und trinken wir?«, fragte Isenhart.
»Weil wir sonst sterben«, antwortete Henning.
Isenhart nickte: »Es ist uns ein Bedürfnis. « So, fuhr er fort, wie es ihnen ein Bedürfnis war, ihre Neugier zu befriedigen und ihren Horizont zu erweitern. Trotz des Risikos, bei einem erneuten Verstoß gegen die kirchlichen Dogmen viel drakonischer bestraft oder gar getötet zu werden, brachte es sie nicht dazu, ihre Forschungen über das Fliegen einzustellen. Sie konnten nicht wider ihre Natur.
Warum also, das hatte Isenhart sich gefragt, tötete der Mann, der sich als Aberak von Annweiler ausgab, obwohl der Preis dafür – wurde man seiner habhaft – kein geringerer als sein Leben sein würde. Weil er den Schmerz abstellen musste. »Weil er bereit ist, diesen Preis zu zahlen«, sagte Isenhart daher zu seinen beiden Begleitern. Die Befriedigung seines Bedürfnisses, die Frauen zu töten und ihnen das Herz zu entnehmen, war ihm mehr wert als sein Leben.
»Und er wird weiter töten«, folgerte Walther.
Isenhart nickte: »Falls wir ihn nicht vorher stellen. Wir wissen von Anna und Lilith. Aber wer sagt, dass Anna sein erstes Opfer war? Oder Lilith sein zweites? Es ist ebenso gut denkbar, dass es noch weitere gibt, von denen wir bloß nichts wissen.«
Das erschien den anderen als ein ebenso brillanter wie logischer Gedanke.
Sie kamen überein, sich zu trennen.
Isenhart wollte unbedingt und ohne Verzögerung in die Registratur, zu der Henning als Sohn des Medicus Zugang hatte. Also erklärte Walther sich bereit, den Weg nach Heiligster fortzusetzen, um Konrad und Sophia die Sorge um sie zu nehmen.
In der Registratur schlug Isenhart starker Schimmelgeruch entgegen.
Die Wände waren von Wassertropfen übersät. In der Mitte des kleinen, gewölbten Raumes, der sich im Untergeschoss eines Hauses befand, in dem die Wachleute ihre Ausrüstung und Lampen lagerten und in dem bei Bedarf Gericht abgehalten wurde, stand ein Regal, in dem Schriftrollen neben- und übereinanderlagen. Auf feinstem Kalbsleder wurden Gerichtsbeschlüsse, Verurteilungen, Eigentums- und Grundstücksrechte festgehalten.
Die Dokumente waren keineswegs vollständig, und der Zahn der Zeit nagte an ihnen. Einige Pergamente waren abgegriffen, oftmals geöffnet und entrollt worden, andere wirkten wie neu, und der Großteil vermoderte. Die Rollen schimmelten, die Schrift verblich, und Mäuse und Ratten konnten sich hier auf eine Notreserve im Winter verlassen.
Henning hatte die Öllampe an einen Nagel im mittleren Stützbalken gehängt, bevor sie sich an die Arbeit machten, denn die Rollen waren nicht sortiert. Um sicherzugehen, waren sie gezwungen, eine jede zu öffnen und zu lesen.
Kurz nur war die Verwunderung, die Henning bei dem Anblick eines lesenden Wachmanns erfasste. Er hatte gelernt, dass in Isenharts Gegenwart mit Überraschungen zu rechnen war.
Die Schriften waren in lateinischer Sprache abgefasst, auf etlichen Pergamenten hatte Tintenfraß eingesetzt, der das Material brüchig werden ließ und als bräunliche Verfärbung um die Buchstaben oder ganze Zeilen herum sichtbar wurde. Diese Art von Tintenfraß trat nur bei der Verwendung von Eisengallustinte auf, wie Henning von seinem Vater wusste. Rußtinte beispielsweise griff die Schriftrolle nicht an, war im Gegensatz zur Eisengallustinte aber wasserlöslich.
Bevor Henning das Wort an ihn richtete, bemerkte Isenhart aus den Augenwinkeln, wie der Sohn des Medicus sich spannte und die Augen näher an das Pergament vor ihm führte. »Hier wird von einem Mord an einer jungen Frau berichtet«, sagte er leise, ganz so, als könne die Schrift vor ihm auf immer verschwimmen, wenn er seine Stimme zu sehr erhob.
Isenhart trat neben ihn und blickte auf die Schrift. Cor fiel ihm in die Augen: das Herz. Ihn packte die Ungeduld, seine Blicke flogen über die Zeilen, während Henning sie Wort für Wort aufmerksam studierte. Scalpere fingen Isenharts Augen auf und circumseco – kreisförmig ausgeschnitten. Sein eigenes Herz verdoppelte die Schlagzahl, zumindest empfand er es so, und mit höchster Anspannung warf er einen Blick auf das Ende der Aufzeichnung: Percussor ignotus.
Mörder unbekannt. Anno Domini 1193 .
Henning hob den Blick, ihre Augen trafen sich. Und mit ihnen die Gewissheit,
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