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Isenhart

Isenhart

Titel: Isenhart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Karsten Schmidt
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der Amputation ihres Beines mit unvorstellbaren Schmerzen zu sich kamen – andere dagegen wachten gar nicht mehr auf.
    Er reinigte die Stümpfe mit frisch abgekochtem Wasser und verband sie anschließend. Günther von der Braake hatte keine Vorstellung, weshalb verschmutzte Wunden Blutvergiftungen hervorriefen oder eierten und sich in der Folge die Haut ins Schwarze verfärbte und abstarb. Er hatte lediglich davon Kenntnis, dass dem so war, wenn man sie nicht entsprechend behandelte.
    Auch das Abkochen des Wassers war nicht der Kenntnis von Bakterien und Keimen, sondern dem Umstand geschuldet, dass Menschen leicht erkrankten, wenn sie Fluss- oder Seewasser zu sich nahmen. Dabei stand das Risiko der Erkrankung in Beziehung zu der Stelle, an der man das Wasser entnahm. Lag sie flussabwärts eines Punktes, an dem die menschlichen Ausscheidungen und auch sonst alle Abfälle, etwa die Reste von Tierkadavern, in den Strom gelangten, nahm das Risiko sprunghaft zu.
    Schmerz. Nichts anderes hatte nach der Amputation Platz in Isenharts Kopf gehabt als der reine Schmerz. Alles in ihm schrie nach Linderung, und im ersten Moment glaubte er, der Schmerz würde ihm den Verstand rauben; er hätte alles getan, um ihn zu beseitigen.
    Das Blut lief ihm warm aus dem offenen Stumpf. Das erschien ihm vertraut, der Schmerz verlor etwas von seinem nackten Sein.
    Von Hennebergs Bestrafung des freien Denkens trieb eine Blüte, die weder der Bischof noch Isenhart selbst erahnt hätten. In dem unbändigen Wunsch, alles zu tun, um den Schmerz zu stillen, vollzog Isenhart nach, weswegen der Mörder tötete. Er konnte nicht anders.
    »Warum hast du das getan?«, fragte Isenhart, dessen Schmerzen ein wenig abklangen. Günther hatte ihn zuerst behandelt und kümmerte sich nun um seinen Sohn, der auf einem Schemel saß.
    Henning schenkte ihm trotz seiner Schmerzen ein Lächeln. »Es gab viele gute Gründe dafür«, erwiderte er.
    »Es war töricht«, schaltete sich sein Vater ein.
    Der Sohn schüttelte den Kopf: »Niemand hat die göttliche Ordnung infrage gestellt. Es galt nur herauszufinden, ob wir in den Himmel vorstoßen können. Wenn das gegen Gottes Wille ist, wird er es zu verhindern wissen.«
    »Wie heute«, kommentierte Günther von der Braake.
    »Isenhart und ich haben zusammen noch achtzehn Finger. Wenn man uns die auch genommen hat – spätestens dann wissen wir, ob wir heute Nacht Pech hatten oder an Gottes Grenzen gestoßen sind.«
    Isenhart blickte zu Walther. Stumm waren die beiden sich einig, dass noch niemals so wenige Worte gereicht hatten, um sie für etwas zu vereinnahmen.
    Henning beugte sich vor: »Wie könnte ich wohl den Traum vom Fliegen weiterverfolgen, wenn man nur dich bestraft hätte?«
    Am Vormittag machten sie sich auf den Rückweg, obwohl Günther es nicht gerne sah, dass Henning erneut die Stadt verließ. In Heiligster, so seine Befürchtung, würde er sich nur weiter in Gefahr bringen.
    Und zu dieser Sorge hatte er Anlass. Henning war der Meinung, dass es dem Menschen vielleicht nicht gegeben war, sich von der Erde zu erheben  – aber vielleicht, sich in der Luft zu halten. Ebenso wie Isenhart hatte er Gwegs und Unnabas Flugbahnen sehr genau beobachtet. Zum Vergleich hatte er jene von Finken, Spatzen und Elstern herangezogen.
    »Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Flügelspannweite und der Frequenz der Flügelschläge«, sagte er bestimmt, während sie sich zu Pferde dem Stadttor näherten, »je größer die Spannweite, desto weniger Schläge genügen dem Vogel, um sich in der Luft zu halten. Er korrigiert nur kurz seine Höhe, dann tut er vor allem eines: gleiten.«
    »Im Gleitflug sind die Flügel starr«, beteiligte Walther von Ascisberg sich an der Unterhaltung.
    In ruhigem Gang führten sie ihre Pferde von Spira weg. Walther war noch in Gedanken bei dem Bischof von Spira, er fragte sich, ob Otto  II . seinen Namen gegenüber Wilbrand von Mulenbrunnen erwähnen würde. Falls ja, war Konrads Leben abermals in Gefahr.
    »Ein durchgehender, starrer Flügel«, sagte Henning von der Braake. Walther musste lächeln, als er sah, wie die Augen der beiden bei dieser Vorstellung glänzten, obwohl man ihnen nur ein paar Stunden zuvor für ebendiese Gedanken die kleinen Finger abgeschnitten hatte.
    »Wir müssen zurück«, befand Isenhart ebenso unerwartet wie überzeugt.
    Henning stoppte sein Pferd, und Walther tat es ihm gleich.
    »Aberak von Annweiler hat mehr als zweimal gemordet«, fügte Isenhart hinzu.

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