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Isenhart

Isenhart

Titel: Isenhart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Karsten Schmidt
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Wenn in diesem Moment jemand vorbeikam, war die Zeit zu knapp, um noch etwas zu vertuschen. Sie würden fliehen müssen.
    Mit einer barschen Bewegung hielt er Henning die Fackel hin, der sie mit einem Nicken entgegennahm und nah an das kleine Skelett zu ihren Füßen führte. Das erste Indiz war bereits beredt genug: Der Torso ließ in Höhe des Herzens ein klaffendes Loch in den Rippenbögen erkennen. Jemand hatte sie durchtrennt.
    Isenhart zauderte einen Augenblick, aber dann packte er so sanft wie möglich den Schädel der Toten, nahm ihn in beide Hände und neigte ihn nach vorn, sodass das Licht der Fackel auch das Schädelinnere beleuchtete.
    Mit einem Knacken, das ihm seltsam hell erschien, brach der Kopf von der Wirbelsäule. Isenhart erschauderte so sehr, dass ihm der Totenschädel entglitt und die Grube hinabpurzelte, um in der Schlammpfütze zu landen.
    »Großartig, Isenhart«, brummte Konrad, »jetzt kommt auch noch Grabschändung dazu.«
    Henning drückte Isenhart die Fackel in die Hand und tastete sich nach unten vor, ließ einen Finger durch die Augenhöhle fahren und hob den Schädel hoch ins Licht.
    Isenhart, der sich wieder einigermaßen gefangen hatte, führte die lodernde Fackel nahe an den Totenkopf. Vier Strahlen von winzigem Durchmesser entsprangen dem Hinterkopf. Vier symmetrisch angeordnete Löcher, jedes von ihnen kreisrund. Etwa dort, wo sich einmal Ketlins Haaransatz befunden haben musste.
    Im Schein der Fackel, mit der freien Sicht in den Schädel der Zwölfjährigen, beim Erblicken der vier Stichwunden und angesichts der zertrümmerten Rippenbögen, war Isenhart frei von jedem Zweifel. Er hob den Kopf, aber Konrad wandte sich ab, damit Isenhart nicht in seinem Gesicht lesen konnte. Alexander von Westheim hatte zwar nach einem Schäferstündchen mit Anna getrachtet, aber er hatte sie nicht getötet. Sie hatten einen unschuldigen Mann lebendig begraben.
    Konrad entfernte sich, er schaute sich kein einziges Mal um, bis er das Osttor erreicht hatte und im Wachraum verschwunden war. Sein Gang war nicht ganz sicher, einmal hatte er die Stadtmauer gestreift.
    »Meinst du, er kannte Ketlin?«, fragte Henning.
    Isenhart schüttelte den Kopf: »Nein. Ich sehe kurz nach ihm.«
    Im Wachraum brannte eine Kerze, im Stockwerk über ihnen huschten Ratten über den Boden. Als Isenhart das Zimmer betrat, saß Konrad auf einem Schemel und starrte mit weggetretener Miene in die Kerzenflamme. Isenhart ließ sich auf einem zweiten Schemel nieder. Der Regen fiel mit sanftem Trommeln gegen die Mauer. Isenhart sprach Konrad nicht an, er kannte ihn viel zu lange.
    Aberak von Annweiler hatte mindestens dreimal getötet. Wozu das Herz? Er tötete dafür, er riskierte auch, dafür entdeckt zu werden. Und es gab einen neuen Gedanken, der durch die Zahl der Ermordeten ausgelöst wurde – er benötigte nicht nur ein Herz. Er benötigte mehrere. Brauchte Aberak von Annweiler eine bestimmte Anzahl von Herzen? Oder taugten diejenigen, die er raubte, nacheinem bestimmten Zeitraum nicht mehr für seine Zwecke, weshalb er sich frische beschaffen musste?
    Und weshalb hatte er sich auf eine neue Art des Tötens verlegt? Weshalb hatte er Lilith und Ketlin nicht auch mit einem Schnitt durch die Kehle das Leben genommen? Er trieb ihnen, das erinnerte Isenhart, weil er der toten Lilith einen Strohhalm ins Hirn geführt hatte, einen spitzen, sehr dünnen Gegenstand in den Hinterkopf.
    Konrad unterbrach Isenharts Gedankengänge, weil er urplötzlich mit einer solchen Kraft emporschoss, dass sein Schemel umkippte. Seine Faust krachte auf den Tisch, der Kerzenleuchter vollzog einen kleinen Hüpfer, Staub schoss zu allen Seiten.
    Es war lange her, dass Isenhart den jungen Laurin so resolut erlebt hatte.
    »Lass ihn uns jagen, Isenhart. Ich will ihn töten.« Konrad wartete die Antwort gar nicht mehr ab, sondern ging zur Tür.
    »Möglicherweise haben wir es mit einem Draugr zu tun«, antwortete Isenhart, der erleichtert war, endlich wieder einen gemeinsamen Weg zu beschreiten.
    »Ist mir einerlei«, sagte Konrad, ohne sich umzudrehen, und schon marschierte er voller Tatendrang hinaus in die regnerische Nacht.
    Eine Menge Dinge sprachen dagegen, jetzt belustigt zu sein, aber Isenhart konnte ein Schmunzeln dennoch nicht unterdrücken.
    In aller Eile hatten sie Henning geholfen, die Toten wieder in der Grube abzulegen und sie mit Erde zu bedecken. Nun redeten Isenhart und Henning auf Konrad ein, während sie Spira zu Fuß

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