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Isenhart

Isenhart

Titel: Isenhart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Karsten Schmidt
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eigentlich nicht«, entgegnete Henning von der Braake, während er wie Isenhart den Rahmen mit Fischfett einrieb, um den Flügel vor kleinsten Verwirbelungen der Luft zu schützen. »Wennder Herrgott in seinem Weltenplan nicht gewollt hätte, dass wir die Grenzen des Seins erforschen, hätte er uns nicht mit dem ausgestattet, das uns über die Tiere erhebt: unseren Verstand.«
    Trotz all der Spalten und Ritzen, durch die der Winterwind pfiff, hing der Fischgeruch drückend in der Luft sowie in den Kleidern und dem Stroh, das sie hier gelagert hatten.
    Konrad von Laurin schüttelte den Kopf, warf Isenhart noch einen Blick zu und ließ sie dann in diesem abscheulichen Gestank zurück.
    Einzig Sophia stand ihrem Vorhaben wohlwollend gegenüber, lauschte ihren nächtlichen Debatten um den Luftwiderstand sowie die Gefahr von Verwirbelungen und wurde Zeugin von Isenharts Bedauern, lediglich etwas zu konstruieren, das sich den Launen der Luftströmungen überlassen musste, statt aktiv Richtung und Höhe zu bestimmen, wie es mit beweglichen Flügeln vielleicht möglich gewesen wäre.
    »Das eine kann der Schritt zum anderen sein«, tröstete Henning ihn.
    So war es nicht weiter verwunderlich, dass Sophia die beiden am Morgen des 3. Januar 1196 beim Aufstieg zum Knorrigen Alten begleitete. Die Pferde, Eigentum Spiras, hatten sie mit dem Tod Michaels von Bremen abgeben müssen, da der Fall in den Augen des Hauptmanns der Stadtwache abgeschlossen war.
    Also ließen sie den Karren, auf dem sich unter einer Plane die beiden Teile des Gleitflügels befanden, von zwei Maultieren ziehen, die sie für ihre Arbeiten in Heiligster besaßen. Nur zu gerne hätte Isenhart Walther an ihrer Unternehmung teilnehmen lassen, doch er war noch nicht nach Tutenhoven zurückgekehrt. Außerdem war Walthers Haut mittlerweile von hellbraunen Altersflecken übersät, seine Augen umrahmten schwere Tränensäcke und buschige graue Brauen. Das Gehen bereitete ihm Mühe, auch wenn er diesen Umstand vor anderen zu verbergen und mit seiner aufrechten Haltung auszugleichen versuchte. Isenhart wollte dem alten Freund so eine Strapaze – und das war sie – wie ihre Expedition zum Knorrigen Alten ersparen.
    Der Knorrige Alte, der wegen seines Silbervorkommens erst drei Jahrhunderte später fast gänzlich abgebaut worden sein sollte, erhob sich eine halbe Meile südwestlich von Heiligster bis zu 210 Fuß in den Himmel. Der Ascisberg überragte den Alten um 90 Fuß, aber für ihre Zwecke war Letzterer allemal ausreichend.
    Mühsam stapften sie durch den Tiefschnee, dessen Oberfläche immer wieder von heftigen Böen aufgewirbelt wurde, und trieben die Maultiere an, die bis zu den Kniegelenken in der weißen Pracht versanken. Die beiden Tiere trugen ein neues Geschirr, das Einzug ins Heilige Römische Reich gehalten hatte und sich von den jahrhundertealten Zuggeschirren dadurch unterschied, dass die Vierbeiner die Last nicht mehr mit ihrem Hals in die Vorwärtsbewegung zerrten – was der Mehrzahl der Ochsen auf den Feldern schlicht den Atem raubte –, sondern mit der Brust. Die Maultiere fanden sich also nicht länger in dem Konflikt zwischen den antreibenden Stockschlägen ihrer Besitzer und ihrer eigenen Strangulation wieder.
    Gweg und Dolph waren ihnen gefolgt, mal kreisten Vater und Sohn über ihnen, mal pausierten sie auf dem Karren und ließen sich durch Schnee und Wind ziehen, reckten die Schnäbel und gaben Krächzlaute oder ein »Amen« von sich.
    Gegen Mittag war es so weit.
    Isenhart stand auf einem Felsvorsprung rund 60 Fuß über dem Boden. Henning und er hatten die Flügel huckepack bis hierher unter gepressten Flüchen getragen, gezerrt und geschleift und ineinander montiert, während Sophia unten bei dem Karren ausharrte. Sie führte die Maultiere herum, damit ihre Läufe nicht festfroren.
    Die Böen griffen unter die Kalbshaut des Flügels, drückten und zogen und verlangten Isenhart alles an Standvermögen und Kraft ab, um sich dagegenzustemmen und nicht in die Tiefe gerissen zu werden.
    Henning stand neben ihm, umtanzt von Schneeflocken, und hielt den Flügel fest. Isenhart sah zwei Linien blitzender Zähne, Henning lachte gegen den Wind. »Jetzt gilt es!«, rief er voller Begeisterung.
    Isenhart spürte ein Kribbeln, das von seinen Füßen ausging, unter der Haut aufwärtsstieg und ihn schließlich komplett durchdrang. Ein ähnliches Wonnegefühl hatte ihn in seiner ersten Nacht mit Anna heimgesucht und dazu geführt, dass er sich so

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