Isenhart
nicht nur erklärlich, sondern barmherzig.
Es kostete sie anderthalb Stunden beschwerlichen Weges, bis sie Tutenhoven erreichten, das näher am Unglücksort gelegen war als Heiligster. Zolner empfing sie mit dem üblichen Misstrauen, aber angesichts der unübersehbar schweren Verletzung ließ er Gnade vor Recht ergehen, stellte keine Fragen, sondern wagte sich ins Schlafgemach seines Herrn, um diesen zu wecken.
Walthers Hand ruhte auf dem schmerzenden Becken, als er das Haupthaus betrat, in das sie Henning schafften, um ihn vorsichtig neben dem Ofen zu betten. Als Isenharts Blick ihn traf, nahm Walther die Hand von seiner Hüfte. Er war müde, sehr müde. Eine der wenigen Vorzüge des Alters bestand in dem Gewinn von Lebenszeit. Vier Stunden Schlaf waren mittlerweile ausreichend, während er sich früher ein Pensum von sechs und mehr Stunden genehmigt hatte. Dass die Müdigkeit sich trotzdem wie flüssiges Blei durch die Blutbahnen zog und jede Bewegung zur Mühsal erhob, lag an Cecilia, die mit einer schweren Grippe und hohem Fieber das Lager hütete.
Der Schnitter hatte die Hand nach ihr ausgestreckt, und Walther machte diesbezüglich Zolner gegenüber keinen Hehl. Aber er gab ihm ebenso unmissverständlich zu verstehen, dass er all sein Wissen und all seine Kräuterkunde in die Waagschale zu werfen beabsichtigte, um dem Schnitter dieses Mal ein Schnippchen zu schlagen.
Auf den Schlachtfeldern des zweiten Kreuzzugs hatte er allerlei Verletzungen gesehen, und so genügte ein einziger Blick, um diejenige, die Henning erlitten hatte, einzuordnen. Es stand nicht gut um den jungen von der Braake.
Der Schock war von ihm gewichen, er stöhnte und krümmte sichunter den Schmerzen, und hin und wieder entglitt ihm gegen seinen Willen ein spitzer Schrei. Sophia wischte dem Verletzten den Schweiß von der Stirn, sie murmelte das Ave-Maria. Und Isenhart war ihr dankbar dafür, denn obwohl auch er die Fürbitte hätte sprechen können, wäre es ihm nicht aufrichtig erschienen.
»Bitte«, wandte er sich an seinen alten Lehrer, »bitte, rettet sein Leben. Ich bitte Euch bei allem, was mir heilig ist. Ich ersuche Euch um Eure ganze Kunstfertigkeit.«
Isenhart verstand es, seine tiefe Verzweiflung hinter einem ruhigen Ton zu verbergen, und Walther verstand es, hinter dem ruhigen Ton seines ehemaligen Schülers dessen Verzweiflung wahrzunehmen.
»Das wird nicht reichen, Isenhart«, stellte er bei genauerer Betrachtung der Verletzungen fest, »geh und hol seinen Vater. Zolner?«
»Ja, Herr?«
»Gib ihm unser schnellstes Pferd.«
In halsbrecherischem Tempo jagte Isenhart den Schimmel in der Linie durch die Schneeverwehungen, in der er den Weg vermutete. So musste er jederzeit auf einen Sturz gefasst sein, aber für ihn war es keine Frage, dieses Risiko in Kauf nehmen zu müssen.
Das Herz wurde ihm klein, als er endlich die Befürchtung zuließ, die zurückzudrängen ihm auf dem Weg nach Tutenhoven noch gelungen war: Wenn er Henning verlor, diesen unerwarteten Zugewinn, würde er wieder alleine seine Bahnen ziehen. Und das vermutlich für den Rest seines Lebens.
So war es ihm bereits ein kleiner Trost, an den Stadtmauern Spiras auf Konrad zu treffen, der dort seinem Wachdienst nachkam. Sofort entsandte dieser Wachmänner zu jenen Örtlichkeiten der Stadt, an denen Günther von der Braake sich aufhalten konnte.
Nur eine Viertelstunde später befanden sie sich zu dritt auf dem Weg zurück nach Tutenhoven. Günthers Miene war eine verkniffene Maske. Er trug einen Beutel mit sich, in dem er Kräuter, Salben, Verbände und Operationsbesteck verstaut hatte.
»Wie ist es passiert?«, wollte Konrad wissen, der neben Isenhart ritt.
»Er hat sich die Beine gebrochen«, gab Isenhart knapp zurück.
»Ja, das hast du gesagt. Aber wobei? «, hakte Konrad von Laurin nach.
»Ist das so wichtig?«, fragte Isenhart gereizt. Er wusste, wie Konrad zu ihrem Unterfangen stand, das Fliegen zu erforschen, deswegen wollte er ihm keine Gelegenheit zu nachträglichen Belehrungen geben.
Konrad hingegen ahnte, dass sich der Unfall im Zusammenhang mit einem Flugversuch ereignet hatte. Aber obschon sich eine gewisse Eifersucht auf Henning in ihm regte, schätzte er den Sohn des Medicus doch. Vor allem, weil er eine Bereicherung für Isenharts Leben darstellte, die er ihm nicht bieten konnte – ihm aber gleichwohl gönnte, denn wer gesehen hatte, wie Isenhart im Umgang mit Henning von der Braake aufblühte, musste diesem alleine schon um Isenharts
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