Isenhart
lebendigfühlte wie nie zuvor, intensiv durchdrungen von dem Bewusstsein der Körperlichkeit, dass es eine Lust war zu sein.
Er blickte hinab, Sophias und seine Augen trafen sich. Isenhart meinte, ihre grünen Augen von hier oben ausmachen zu können, als er gegen jedes warnende Signal seines Körpers das Unerhörte wagte und sich ins Nichts abstieß.
Von der Erhabenheit, die er sich erhofft hatte, sanft durch die Sphären gleitend, den göttlichen Funken erhaschend, war zunächst nichts zu spüren. Sofort wurde er von einer Bö erfasst, die ihn in eine aerodynamisch heikle Situation bugsierte. Mithilfe der Lederriemen, an denen er unter der Flügelkonstruktion hing, steuerte er dagegen, und wider alle Befürchtung gelang ihm dieses Manöver, er brachte den Flügel erfolgreich in jenen Wind, der ihm in den Ohren toste.
Sophia erschauerte bei dem Anblick, der sich ihr bot – Isenhart flog. Weit über ihr glitt er durch die Schneeflocken. Gegen jede Wahrscheinlichkeit und trotz der Widrigkeiten, die die Dogmen des Heiligen Stuhls ihnen bei ihrem Vorhaben auferlegten, hatte er seinen Traum vom fliegenden Menschen Gestalt annehmen lassen. Sie empfand einen ungeheuren Stolz auf diesen jungen, schmächtigen Mann, der sich prächtig im Wind hielt.
Henning, der an der Felswand verharrte, erging es nicht anders. Kaum hatte Isenhart sich ins Nichts gestürzt, waren Gweg und Dolph aufgeflattert, um ihm zu folgen. Das Konstrukt erwies sich in dem neuen Element, das sie nur im Ansatz erforscht hatten, als tauglich. Und wichtiger noch, viel wichtiger: Isenhart lebte.
Als der junge Schmied sich abstieß, schlugen zwei Herzen in Hennings Brust. Das eine, das den Schritt in die dritte Dimension wagen wollte und musste, weil es vor Neugierde sonst umgekommen wäre, und das andere, das Isenhart, diesen gewonnenen Bruder, um keinen Preis verlieren wollte.
Isenharts Herz hämmerte derweil bis zum Hals, zumal der Aufwind unter den Gleiter griff und ihn mit einem Schlag noch einmal zwanzig Fuß in den Himmel riss, so unvermittelt und urgewaltig, dass er um ein Haar die Balance verloren hätte. Der Flügel vibrierte unter der Last seines Körpergewichts und wegen der Verwirbelungen, die sich trotz der akribischen Versiegelung, die er mit Henningauf den Ober- und Unterseiten aufgetragen hatte, bildeten. Die Vibration griff erst auf die Lederriemen über, dann auf ihn.
Isenhart riss den linken Arm herunter, der Nurflügler neigte sich in die Windrichtung und versetzte ihm einen erneuten Schub. Dann ließ die Vibration nach, der Wind rüttelte nicht mehr an dem Gleitflügel, Isenhart schwebte. Ja, er schwebte!
Erhaben glitt er über die Winterlandschaft, während die Erde unter ihm davonrauschte. Und plötzlich wurde er von Dolph und Gweg eskortiert, die sich zu beiden Seiten des Flügels eingefunden hatten und in den Wind krächzten.
Nun war er eins mit ihnen. Nun wusste er, wie es sich anfühlte, wenn man durch die Lüfte glitt, vom Unterwind getragen, und die Welt von oben sah. Die Freude darüber rumorte in seinem Bauch, jagte die Kehle hinauf und entsprang seinen Lippen als wohliges Jauchzen, das sich im Tal brach und als Echo zu seinen Ohren zurückkehrte. Als Sophia es hörte, strahlte sie über das ganze Gesicht.
Am Mittag des 3. Januar 1196 hatte sich mit Isenhart – nach Ibn Firnas und Eilmer von Malmesbury – der dritte Mensch in die Luft erhoben.
Der 3. Januar 1196 war auch das Datum der dritten Bruchlandung der Menschheitsgeschichte.
Nachdem eine glückliche Fügung den Gleiter trotz des Überschlags, den Isenhart bei seiner Landekollision mit einer Tanne vollführte – der Nurflügler eignete sich nicht für schnelle Ausweichmanöver –, vor jeglicher Beschädigung bewahrt hatte, fanden sie wieder zusammen. Sophia, Henning und Isenhart sprangen in die Luft und lachten, sie fielen sich in die Arme, berauscht vom Gelingen und froh, dass Isenhart unversehrt war.
Dieses war der glücklichste Augenblick in seinem Leben, und obwohl sie es nicht aussprachen, spürte er in der ungezügelten Freude Sophias und Hennings, dass es sich bei ihnen keinen Deut anders verhielt.
Dann kam dieser Moment.
Henning stürmte zum Flügel, um die Verstrebungen zu lösen, sodass aus der Umarmung dreier eine Umarmung von zweien wurde. Ihr Lachen stob noch als weißer Schleier zwischen die Schneeflocken, aber da wussten ihre Augen es schon, und Isenhart ließ los. »Ich wünschte, Anna hätte das sehen können«, sagte er, um
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