Isenhart
einen Keil zwischen sie zu treiben.
Was ihm gelang: Sophia ließ die Arme sinken, stand einen Augenblick reglos, um sich dann zu straffen und zu nicken.
Sie benötigten eine Stunde, um die beiden Flügelteile, die sie sich mit Hanfseilen um die Körper gespannt hatten, wieder auf den Knorrigen Alten zu hieven. Dieses Mal begnügte Sophia sich nicht mit einer Beobachterposition, sondern begleitete sie hinauf.
»Hier«, rief Isenhart gegen das Sturmtief, als sie die Felswand erreichten, von der aus er sich in die Tiefe gestürzt hatte.
»Höher«, rief Henning zurück, »viel höher!« Und schon umschloss seine linke Hand den nächsten Vorsprung.
Isenhart warf Sophia einen Blick zu, aber die quittierte ihn mit einem angedeuteten Schulterzucken.
»Der Flügel lässt sich nur schwer lenken«, brachte Isenhart hervor.
»Aber vielleicht verhält es sich bei den Luftströmungen weiter oben anders!«, bekam er zur Antwort.
120 Höhenfuß weiter hatte der eisige Wund ihren Schweiß in feinste Eisstrukturen verwandelt, die sich über ihre Gesichter zogen, selbst ihre Wimpern waren weiß.
Und während Isenhart und Henning die beiden Flügelteile mittels der Verstrebungen wieder zu einem Ganzen montierten, studierte Sophia die beiden. Ihre zupackenden Hände, die trotz der kleinen Verletzungen, die sie sich aufgrund ihrer immer starrer werdenden neun Finger zuzogen, unermüdlich den Start von der höheren Position aus vorbereiteten, die nahezu weißen Gesichter, in denen die Augen zweier kleiner Jungs zu leuchten schienen, und all die anderen kleinen Zeichen ihrer Entschlossenheit und Begeisterung ließen in Sophias Augen nur einen Schluss zu.
Die beiden würden sich auf dem Weg, den ihr Verstand und ihre Neugier ihnen wiesen, durch nichts und niemanden abbringen lassen. Und wenn ihr Leben der Preis dafür war, dann war es eben der Preis.
Henning, der den Flügel über sich stemmte, hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Der Winterwind stieß unter den Gleiter und zwang ihn mit unvorhersehbaren Böen zu Stützschritten. Isenhart und Sophia standen neben ihm, sie alle drei blickten hinab, wo sie rund 200 Fuß tiefer die Maultiere ausmachten, die zugeschneit wurden.
»Das ist sehr hoch!«, rief Sophia dem Sohn des Medicus zu.
Henning wandte ihr und Isenhart den Blick zu. »Ich weiß«, antwortete er. Obwohl er nur zwei Worte von sich gab, waren sie unüberhörbar von Furcht geprägt.
»Wir können wieder zum Felsvorsprung absteigen«, schlug Isenhart vor, der sich aus dieser Höhe nie und nimmer den Elementen überlassen hätte.
Henning von der Braake nickte. »Aber dann kehren wir ohne Antworten zurück«, rief er zurück und sprang.
Isenhart und Sophia erschraken.
Aber Henning hätte kaum eine günstigere Luftströmung erwischen können. Der Nurflügler trug ihn sanft durch das Schneetreiben. Von der Braake zog den Gleiter auf der rechten Seite nach unten, der Wind erhielt links eine größere Angriffsfläche, und so gelang ihm ein nahezu vollendeter Halbkreis, während die Kolkraben ihn oberhalb der Konstruktion aus Fichtenholz und Kalbsleder eskortierten.
Angst und respektvolle Bewunderung hielten sich die Waage bei Isenhart, der wie Sophia Hennings Weg durch die Lüfte aufmerksam verfolgte. Es war erst eine Stunde her, dass er am eigenen Leib erfahren hatte, was es hieß, sich dem Wind zu überlassen.
Der Halbkreis trug Henning wieder in Richtung des Knorrigen Alten. Sophia und Isenhart hätten das, was dann passierte, mit keinem Begriff bezeichnen können: Der Flügel sackte zur Linken weg, als Henning den Anstellwinkel der Tragfläche so sehr in die Vertikale hob, dass keine Luft mehr griff, wurde vom Sturm erfasst, geriet ins Strudeln und beschrieb eine rasende Spirale in die Tiefe.
Isenhart warf sich zu Boden und robbte eilends an die Kuppe, von der Henning ins Ungewisse aufgebrochen war. Der Sturm ergriff den Gleiter und schleuderte ihn mitsamt seiner menschlichen Fracht mit einer Wucht gegen den Knorrigen Alten, die Isenhartnoch einmal verdeutlichte, mit welcher Naturgewalt sie sich eingelassen hatten.
Henning war regungslos, als sie ihn endlich erreichten. Er starrte in den Himmel, die Reste des zerborstenen Gleiters neben sich. Sein Blick war trüb, auf Ansprache reagierte er seltsam verzögert. Aber angesichts seiner aufs Merkwürdigste verschlungenen Beine und dem Loch in seinem Beinkleid, aus dem das makellose Weiß eines offenen Oberschenkelbruches lugte, war der Schock, unter dem er stand,
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