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Isenhart

Isenhart

Titel: Isenhart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Karsten Schmidt
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feststellte, als er vor die Tür trat und die nächtliche Winterluft ihn umfing. Der Geistliche war ihm gefolgt.
    »Vermutlich warst du noch zu klein«, begann Hieronymus, »aber ich würde es trotzdem gerne wissen. Als du als Säugling auf der … anderen Seite warst, was hast du da gesehen?«
    »Nichts«, antwortete Isenhart wahrheitsgemäß.
    Hieronymus’ Gestalt, so meinte er, sackte vor Enttäuschung ein wenig zusammen. Straffte sich dann aber sogleich, um ihm ein wenig auf die Sprünge zu helfen: »War es womöglich ein schöner Garten mit einem Bach und fröhlichen Menschen, und …«
    »Nein«, unterbrach Isenhart, der nun eine genaue Vorstellungdavon hatte, wie Hieronymus sich das Paradies vorstellte: ein Garten mit einem Bach.
    »Oder«, legte der Geistliche nach, »hast du vielleicht Flammen gesehen, hast du die Hitze gespürt und die Schmerzensschreie von verlorenen Seelen gehört?«
    »Auch das nicht«, antwortete Isenhart ruhig, »ich habe keine Erinnerung mehr an das, was ich damals gesehen habe.«
    »Natürlich nicht«, beeilte Hieronymus sich zu sagen.
    Die entscheidende Frage, die es abzuwägen galt, war: Würde er überhaupt lebend nach Heiligster zurückkehren? Da deren Beantwortung ohne seherische Fähigkeiten unmöglich war, ging er pragmatisch an die Sache heran. Sollte er unversehrt aus Toledo zurückkehren, war die Frage ohne Belang. Damit galt es nur noch für den Fall vorzusorgen, dass er Heiligster nie wiedersehen würde.
    Um Hieronymus und Henrick musste er sich nicht sorgen, die hatten ihren Weg eingeschlagen und waren auf ihn nicht angewiesen. Konrad würde Vater werden, und Isenhart war sich sicher, dass dies dem Freund auch jene Verantwortung bewusst werden ließ, die seinem Leben eine gewisse Ruhe und Gelassenheit angedeihen lassen würde. Unter dem Strich liefe es auf weniger durchwürfelte Nächte und weniger Prügeleien in Spira hinaus.
    Blieben die Kolkraben und Sophia.
    Gweg hatte zusammen mit Unnaba seine eigene Familie gegründet. Die Raben würden mit oder ohne ihn dasselbe Leben führen. Sicher, ein paar Leckerbissen weniger. Aber sie waren klug genug, sich selbst welche zu beschaffen. Ihnen galt die geringste Sorge, ganz abgesehen davon, dass ihr Flattern, ihr Landen auf seiner Schulter und ihr Krächzen ihm fehlen würden.
    Isenhart beschloss, auf dem Heuboden zu übernachten. Er wollte nicht neben den anderen lagern, um ihnen den Abschied zu vereinfachen. Dieser hehre Gedanke erschien ihm bei den nächtlichen Temperaturen, die ihn in der Scheune empfingen, alsbald als ein wenig zu selbstlos. Der Wind, der die Kälte durch die Ritzen der Tenne presste, wischte jeden Gedanken an Schlaf beiseite, sodass er die Schritte, die sich seiner Schlafstatt näherten, schon von Weitem hörte. Es war Sophia.
    Sie kniete sich neben ihn. »Mir ist kalt«, wisperte sie.
    Isenhart schlug die zwei Kuhfelle, mit denen er sich vor der Kälte schützte, zurück, und Sophia kroch darunter. Im Winter, wenn sie sich allesamt neben dem Ofen versammelten und wie Schafe im Sturm aneinanderdrängten, wenn die Gerüche aus ihren Mündern und von dem getrockneten Schweiß, der aus ihren Kleidern drang, sie umfingen und ihnen Sicherheit und Wohlbehagen vermittelten, war die körperliche Nähe ganz natürlich.
    Dieses Mal schwang noch etwas anderes mit. Ihre Arme und Beine umschlangen ihn nicht, und doch lagen sie so eng wie frisch Getraute.
    »Reimar von Vogt hat wieder um meine Hand angehalten«, flüsterte Sophia.
    Auch wenn Isenhart Erleichterung verspürte, weil ihm womöglich eine große Sorge genommen war, hinterließen Sophias Worte doch auch einen ziehenden Schmerz in seiner Brust.
    Aus dem kleinen rothaarigen Trampel war eine recht hübsche Frau geworden. Ihre schmale Gestalt, die die weiblichen Formen nicht recht zur Geltung brachte, und ihre Sommersprossen, die sie dem Verdacht aussetzten, mit Kräften zu paktieren, die nicht von dieser Welt waren, machten sie zu einem Blickfang.
    Das war auch Reimar von Vogt nicht verborgen geblieben, einem Mann aus dem niederen Adel, der die Geschäfte seines Vaters Jurgan von Vogt übernahm – dieses just zu dem Zeitpunkt, an dem auch der Bischof von Spira nicht länger die Hand über Simon Rubinstein halten konnte. Den Juden waren der Handel – mit Ausnahme der Geldwirtschaft – und andere Berufszweige in der Folge der Kreuzzüge weitgehend verboten worden.
    Die Ausnahme, die man Rubinstein gewährt hatte, stieß im Rathaus auf das Unverständnis

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