Isenhart
Puente zu. Hier, in dieser Festung, trafen drei Wellen aufeinander und barsten nicht: Juden, Moslems und Christen. Das Ergebnis war jenes Wispern, das Isenhart zuvor wahrgenommen hatte. Das Wesen der Puente.
Ibn Khamud nahm einen Schluck von dem dampfenden Tee.Konrad verzog leicht das Gesicht: »Ist das nicht viel zu warm bei dieser Hitze?«
Der Blinde nickte: »Als Kind empfand ich es auch als unerträglich. Aber nur, bis ich gemerkt habe, wie es erfrischt.«
Konrad wollte etwas erwidern, hielt sich aber zurück. Der alte Mann vor ihm schien dies zu spüren. »Mein Herr, Al-Hariq, hat mir erklärt, dass das warme Wasser das Blut erwärmt. Und zwar so sehr, dass die Sonnenhitze nichts mehr zum Erwärmen vorfindet.«
»Ich verstehe«, sagte Konrad, was eine glatte Lüge war.
»Habt Ihr je von einem Mann gehört, dessen Name Aberak von Annweiler ist? Oder Michael von Bremen?«, fragte Isenhart.
Ibn Khamud überlegte kurz, um dann mittels eines angedeuteten Kopfschüttelns zu verneinen.
Obwohl Isenhart mit dieser Antwort gerechnet hatte, gelang es ihm nicht gänzlich, seine Enttäuschung zu verbergen. Die Antworten auf seine brennendsten Fragen hatte er nun erhalten. Er wusste, wie es dazu gekommen war, dass sein Vater von einem jungen Mönch zu einem Seelensammler wurde. »Wir möchten Eure Zeit nicht länger in Anspruch nehmen«, sagte er daher und wollte sich erheben.
»100 Tagesreisen, das ist es, was Euer Begleiter gesagt hat, nicht wahr?«
»Ja«, bestätigte Konrad.
Über Ibn Khamuds Gesicht zog ein trauriges Lächeln. »Wie Euer Vater«, sagte er, »Sydal von Friedberg hat immer alles aufgeboten, um Antworten auf seine Fragen zu erhalten. Er … es hätte ihm gefallen zu wissen, was Ihr auf Euch genommen habt. Für eine halbe Stunde mit einem blinden alten Mann.«
Es war eine Eingebung, die Isenhart nach der Hand Ibn Khamuds greifen ließ. Der Blinde ließ es geschehen, seine Züge entspannten sich.
»Erzählt mir von meinem Vater«, bat Isenhart. Die Inbrunst, mit der sein Freund die Bitte hervorbrachte, ließ Konrad von Laurin aufmerken.
Von großem Ernst sei Sydal gewesen, erfuhr Isenhart, so wendig im Geist wie ein Wiesel im Feld. Das machte eigentlich sein Wesen aus, erklärte Ibn Khamud, nämlich dass seine Gedanken stets inBewegung waren. Nichts konnte er so akzeptieren, wie es war – Isenhart spürte bei diesen Worten sehr wohl Konrads Blick in seinem Nacken.
»Der Tag mit dem Stein fällt mir da ein«, sagte der Blinde. Und er erzählte, wie Sydal einen Stein aufgehoben hatte, ihn sich genau angesehen und begonnen hatte, Fragen zu stellen. Warum war ein Stein hart und nicht weich wie Wasser? Hat möglicherweise ein Stein auch eine Art Wesen, und sind wir nur zu grobe und geistig begrenzte Kreaturen, um das zu erkennen? Was hat der Schöpfer sich wohl dabei gedacht, ein paar Steine in den Sand zu legen, die mit Sicherheit einige Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte zuvor genauso dagelegen hatten, wie Sydal sie vorfand – und nach ihm auch wieder für weitere Jahrzehnte und Jahrhunderte unbeachtet liegen bleiben würden. Was war der Sinn dieses Steins? Warum war er? Welchen göttlichen Funken trug er in sich? Oder war er einfach doch nur unbelebte Masse, so lange sinn- und funktionslos, bis man ihm einen Sinn oder eine Funktion verlieh?
»Und das war erst der Anfang«, sagte Ibn Khamud, »auf den Stein folgte der Feigenbaum, auf den die Katze – und schließlich der Mensch.«
Konrad hatte nach der Schilderung des Steines eine recht konkrete Vorstellung davon, wie Isenharts Vater beständig an den Nerven all jener gesägt haben musste, die das zweifelhafte Privileg besaßen, sich in Hörweite zu befinden.
Isenhart dagegen spürte sich bei der Erzählung Khamuds diesem Mann, dem Mörder und Seelensammler, nahe. Mehr noch: Er begriff, dass etwas von diesem Mann in ihm war, dass etwas, das diesen Mann ausgemacht hatte, in ihm weiterlebte. Ganz gleich, ob er die Nähe zu diesem Mörder empfinden wollte oder nicht – ihr war seine Befindlichkeit einerlei, sie existierte einfach.
»Da ist noch etwas, was wir uns gefragt haben«, nahm Konrad den Faden wieder auf und riss Isenhart damit aus seinen Überlegungen, »warum waren es ohne Ausnahme Jungfrauen, die ermordet worden sind?«
Ibn Khamud senkte den leeren Blick, er überlegte. »Mein Herr hat vermutet, dass es mit der Reinheit zusammenhing«, erinnerte er sich, »und je reiner die Seele, desto wertvoller.«
»Die unbefleckte Seele«,
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