Isenhart
wie Walther gesagt hatte, ihr beide mögt Euch in diese und jene verlieben, jede wird euch einzigartig erscheinen, aber ich schwöre euch, niemals vergesst ihr die Weichheit und die Wärme des ersten Kusses und dazu das Trommeln eures Herzens. Denn keines von beidem wird jemals wiederkehren. Jedenfalls nicht so.
Die von der Braakes mussten unwiderruflich in den Bann seines Vaters geraten sein, nahm Isenhart an. Und hatten in von Friedbergs Bemühungen um Antworten die Entsprechungen ihrer eigenen Sehnsüchte entdeckt. Niemand ließ sich ein Stück seines Fingers abhacken für eine Überzeugung, für die sein Herz nicht schlug.
Während er Richtung Sunnisheim ritt, bemühte sich Isenhart, die Ereignisse Revue passieren zu lassen, die nun zwangsläufig in einem neuen Licht erschienen.
Ob der Mord an Anna der erste war, den Henning oder Günther auf ihrer Suche nach der Seele begangen hatten, wusste er nicht. Sich allerdings Gedanken über jene zu machen, von denen er keine Kenntnis hatte, hatte keinen Sinn.
Also nahm er den Mord an ihr als Ausgangspunkt.
In seinen Gedanken erschien Isenhart wieder die Spur im Schnee, die sich zu der von Anna gesellt, sie verfolgt und – später an der Eiche, wo er ihren entsetzlich zugerichteten Leichnam fand – eingeholt hatte.
Es war die Spur eines Mannes gewesen. Günther? Henning? War dies sein »Gesellenstück« gewesen?
Es gab keinen konkreten Hinweis, wer von beiden ihm das Liebste genommen hatte, das er damals besaß. Lediglich die Untersuchung, die Walther von Ascisberg an ihrem aufgebahrten Leib durchgeführt hatte, der Schnitt nämlich durch die Kehle, bei dem der Mörder nachgesetzt haben musste, verwies auf jemanden, der darin noch nicht allzu viel Übung besessen hatte.
Was war wohl mit Annas Herz geschehen, das ihr der Mörder an Ort und Stelle entnommen hatte? Was hatten Henning oder Günther wohl damit bezweckt?
Chronologisch betrachtet war zwar Ketlin, die kleine Schwester von Brid, der Hübschlerin, das nächste Opfer. Henning – dieses Mal war Isenhart sich sicher – hatte das junge Ding mit vier Stichen in den Hinterkopf getötet. Mittlerweile hatten Vater und Sohn genug über den Aufbau des menschlichen Hirns in Erfahrung gebracht. Sie dürften versucht haben, jenen Punkt zu treffen, der zum sofortigen Tod führte.
Dennoch schob Isenhart Ketlin in Gedanken auf, weil die Abfolge der Ereignisse aus seiner Sicht eine andere war. Mit der Verurteilung und Hinrichtung Alexander von Westheims hätte alles beendet sein können. Er hätte ein neugieriges, aber beschauliches Dasein in Heiligster führen können. Bis er neben Liliths Leichnam gekniet und schon vor der Untersuchung des bleichen Mädchenkörpers die Gewissheit verspürt hatte, dass es noch nicht vorbei war. Wie aus einem Nebel heraus war der Mörder aufgetaucht und hatte erneut zugeschlagen. Wieder ein herausgerissenes Herz – so viel Zufall gab es nicht.
Nein, Henning von der Braake hatte seine Haare gefärbt, sich den rechten Arm vor den Bauch oder auch den Rücken gebunden und sich als Aberak von Annweiler ausgegeben.
Natürlich war er schon dort gewesen, zuvor. Sie musste ihm aufgefallen sein, die Tochter des Wirts. Vielleicht hatten Vater und Sohn dort einmal haltgemacht, hatten eine Kleinigkeit gegessen oder die Pferde getränkt, kurz mit dem Wirt geplaudert. Vielleicht war Lilith derweil über den Hof gegangen, hinüber zu den Kühen. Ein hübsches Kind. Unschuldig musste sie in Hennings Augen gewirkt haben. Unberührt.
Das, was auch ihr Vater später bezeugen sollte: Lilith war mit niemandem, sie hatte kein teco-meco mit einem Burschen.
Der Vorteil bei einem Mord an dem Kind hatte auf der Hand gelegen, wie Isenhart sich vergegenwärtigte. Wer immer sie entdeckte, Vater oder Bruder, würde nach dem Medicus der Stadt Spira schicken, ohne zu ahnen, dass er damit den Mörder zurück zu seinem Opfer beorderte.
Also schlich Henning sich in der Nacht in den Stall, wo Lilith neben der Kuh wachte, die alsbald kalben würde. Gut möglich, dachte Isenhart, dass er freundlich das Wort an sie richtete. Er stellte sich vor, wie Henning neben ihr Platz nahm. Wie er ein paar Worte über die Kuh verlor und dann über Liliths Erscheinung, ein Kompliment, das ihr die Röte ins Gesicht trieb. Dann ihr Lächeln, das in sich zusammenfiel, als sich zu dem einen Arm des Rothaarigen wie aus dem Nichts ein zweiter gesellte, der ihr eine dünne, harte Metallspitze ohne Zögern einen halben Fuß weit in
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