Isenhart
ihn auch deshalb begleitet, weil er dadurch ständig über den Stand der Jagd auf sich selbst in Kenntnis bleiben konnte. Sobald Isenharts Nachforschungen und Überlegungen ihm zu gefährlich erschienen, konnte er sie manipulieren, ablenken, zerstreuen.
Und niemals hatte er Isenhart während ihrer gemeinsamen Reise einen wertvollen Rat erteilt, wie dieser jetzt rückblickend feststellen konnte. Ohne eine Spur des Mörders waren sie nach Spira zurückgekehrt, unwissend und ratlos. Hennings Mission, die Sucheim Sande verlaufen zu lassen, war von Erfolg gekrönt gewesen. Es hatte keinen Anlass mehr gegeben, sich noch länger mit dem Wachmann Isenhart abzugeben.
Und doch tat er es. Entflammte sich an Isenharts Traum vom Fliegen, stellte mit ihm Thesen auf, verwarf sie wieder, und es war Hennings Überlegung, aus den zwei beweglichen Flügeln einen einzigen zu konstruieren.
Ja, sie hatten ihre jeweilige Ergänzung gefunden. Sie zogen nicht mehr alleine ihre Bahnen, das – Isenhart war sich sicher – hatte auch Henning so empfunden.
Die Suche nach dem Mörder, die Isenhart wieder aufnahm, weil er aus seinem schier überwältigenden Bedürfnis zu fliegen, dem auch die Amputation eines Fingers nichts weiter anhaben konnte, das Bedürfnis des Täters zu morden ableitete, führte nach Spira. Zu Ketlin. Zu dem Friedhof, auf dem Isenhart seine Schritte verlangsamt hatte, weil er meinte, die Toten bewegten sich unter der Erde.
Henning hatte sich zu ihm umgewandt, der Regen prasselte aus dem Nachthimmel auf sie hinab.
Es sind Gase, die entweichen. Fäulnisgase.
Mit diesen Worten hatte Henning ihn beruhigen wollen. Und er hatte noch etwas hinzugefügt: Das erste Mal hab ich mich auch erschrocken. Aber mit den Jahren …
Heute, als Isenhart seine Erinnerungen noch einmal Gestalt annehmen ließ, offenbarte sich hinter Hennings Äußerungen ein anderer, düsterer Sinn. Denn in Ketlins Schädel fand er kurz darauf vier Einstiche. Vier.
Bei Lilith, dem dritten Opfer, von dem Isenhart Kenntnis hatte, waren es nur noch zwei. Zwei Stiche. Er erschauerte bei dem Gedanken, Henning habe inzwischen eine Präzision erlangt, die ihn mit nur einem einzigen Stich töten ließ.
Er sah wieder Brid vor sich, ihre kleine Kammer, in der sich ein säuerlicher Geruch in Kleider und Lager, die Ritzen der Holzwand und in die Astlöcher in der Decke eingenistet hatte. Roch den Regen, der Henning, Konrad und ihm in den Leinen hing, während sie sich um Brid geschart hatten. Und er hörte wieder Henning von der Braake, der erneut jeden Verdacht weit von sich schob, indemer das Wort ergriff und es an die Hübschlerin richtete: Aberak von Annweiler – kennst du ihn?
Nein, Brid kannte ihn nicht, was kein Wunder war, denn von Annweiler war tot und hatte mit den Morden nichts zu tun, nur die Buchstaben seines Vornamens und eine Laune des Mörders hatten ihn Teil dieser Geschichte werden lassen.
Der Besuch bei der Hure brachte die – scheinbar – entscheidende Wende. Zum ersten Mal wussten sie, wen es zur Strecke zu bringen galt. Einen Mann namens Michael von Bremen.
Einen Menschenfresser.
Die erste Deckung, hinter der Henning von der Braake sich verschanzt hatte, war gefallen. Aberak von Annweiler wich der zweiten Deckung, Michael von Bremen.
Ein rothaariger, bärenstarker Mann. Einarmig. Ein furchterregendes Monstrum, dem der Arm bei Doryläum abgeschlagen worden war. Der sich wider jede Wahrscheinlichkeit von dieser Verletzung erholt hatte, indem er das Herz eines starken Gegners verspeist hatte. Eine großartige Geschichte, denn sie kreuzte jene von Sydal von Friedberg und Ibn Al-Hariqs, und, für Hennings Zwecke viel elementarer, sie lieferte eine sinnvolle Erklärung für den Raub der Herzen.
Im Orient gibt es die Vorstellung, dass der Verzehr eines starken Herzens denjenigen erstarken lässt, der es verspeist.
Eine weitere Absicherung, eine willkommene Verschleierung der wahren Motivation. Dazu angetan, Isenharts Verstand in die Irre zu führen.
In jener Nacht, in der sie vor dem Dauerregen Schutz in der Herberge suchten, war Isenhart Henning so dicht auf den Fersen wie niemals zuvor. Trotzdem schlug er Anselms Sohn Huste die Hand ab, die die Klinge zu Isenharts Kehle geführt hatte. Er rettete dem Mann das Leben, der vielleicht schon einen Tag darauf das seine zunichtemachen würde.
In der Rückschau der Ereignisse fühlte Isenhart sich fast geschmeichelt. Jemand hielt ihn für so unersetzlich, für so einmalig, dass er für
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