Isenhart
Wilbrands Befremden. Ihm selbst erging es nicht anders. Was hatte der Abt im fernen Iberien verloren gehabt? Ausgerechnet in der Puente, die Ibn Al-Hariq und sein Vater aus der Taufe gehoben hatten? Wilbrand von Mulenbrunnen war kein Medicus – zumindest war das niemandem geläufig – und trotzdem hatte er sich um die Sterbenden gekümmert. Wozu?
»Ihr untersteht meiner Gerichtsbarkeit, Konrad«, stellte der Abt fest.
»Ich habe keine Ländereien mehr, die Ihr mir nehmen könnt«, ließ Konrad ihn mit spöttischer Stimme wissen.
»Aber Ihr habt noch ein Leben«, entgegnete der Abt ungerührt.
»Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen«, sagte Isenhart.
»Du hast einen Fürsprecher«, antwortete Wilbrand ruhig, »um dich sorgen wir uns später. Aber du warst dabei, als Konrad von Laurin mir nach dem Leben getrachtet hat. In Toledo.« Er hob sein Wams und gab den Blick frei auf eine große, aber gut verheilte Narbe. »Wir erwarten in den Nachmittagsstunden hohen Besuch, Konrad III . von Scharfenberg, der neue Bischof zu Spira. Er soll der Verhandlung beiwohnen und Garant sein für die Unstrittigkeit des Todesurteils, das wir gegen Euch verhängen, Konrad.«
Wie Isenhart mit einem Seitenblick auf ihn feststellte, blieb Konrad äußerlich völlig reglos. Isenhart selbst verband keine guten Erinnerungen mit dem Bischofssitz, der seinen Traum vom Fliegen mit der Amputation des kleinen Fingers hatte ahnden lassen. »Wo ist Sophia von Laurin?«, fragte er.
»In meinen Gemächern«, antwortete der Abt von Mulenbrunnen lächelnd, »da kann sie mir etwas zur Hand gehen.«
Die Verliese, in die man sie geworfen hatte, lagen nebeneinander. Wenigstens das.
Sie kannten sie genau, jeden Winkel, denn als Kinder hatten sie hier unten manchmal gespielt und Konrads Schwestern erschreckt oder eine Magd, die auf dem Weg zum Gewölbe war, in dem ein Teil der Ernte für den Winter eingelagert wurde.
Von hier unten waren die Schreie Alexander von Westheims bis nach oben gedrungen. In einer der vier Zellen, die wie der Fluchtgang einfach in den Fels geschlagen worden waren, konnten an die zehn Gefangene untergebracht werden. Auch im Sommer wurde es hier nie trocken, und Boden wie Wände waren stets kalt. In einer Ecke lag ein halber Ballen Stroh aus, daneben ein Tonkrug, der zur Hälfte mit fauligem Wasser gefüllt war.
Konrads Schweigen zog durch die Kreuzgitter, die die Zelle begrenzten, hinaus auf den Gang, auf dem hinter der Biegung, die zur Treppe führte, eine Öllampe brannte. Hier schien es kurz zu verweilen, bevor es auch in Isenharts Zelle drang und ihm die Kehle zuschnürte. Ihm wäre wohler gewesen, wenn Konrad sich die Fäuste an den Wänden blutig gehauen oder brüllend am Gitter gerüttelt hätte. Die Stille signalisierte Isenhart, dass der Freund abgeschlossen hatte.
Füg dich niemals, hatte Sigimund von Laurin seinem einzigen Sohn eingeschärft. Und nicht nur ihm, auch seinen Töchtern. Nicht das Haupt zu senken – außer vor Kaiser und Gott –, dachte Isenhart, war wohl die Haltung, die Sigimund von Laurin am besten beschrieb. Und so hielt es auch sein Sohn. Konrad von Laurin gab nie klein bei, jedenfalls hätte Isenhart nicht von so einer Situation berichten können. Deshalb traf ihn das Schweigen des Freundes umso schmerzlicher.
Ein Rascheln in seinem Rücken ließ ihn herumfahren. Tief in Gedanken versunken, hatte er so reglos dort gestanden, dass die Ratte ihn wohl als festen Bestandteil der Zelle wahrnahm, von dem keine Gefahr für sie drohte. Jetzt verschwand sie in einer Fuge im Fels.
Isenhart erinnerte sich umgehend an jene Morgenstunden, in denen Walther von Ascisberg mit seiner Fußspitze ein gleichschenkliges Dreieck in den Sand des Burghofs gezeichnet hatte. Der Satz des Pythagoras. Von zwei Bekannten auf eine Unbekannte schließen.
Eine Ratte, die sich in eine Fuge rettet. Er hatte Hohn und Spott geerntet, als er im jugendlichen Alter Ratten und Intelligenz miteinander in Verbindung gebracht hatte. »Ratten sind wie Ungeziefer«, hatte Anna ihm gesagt.
Aber sie waren schlau. Isenhart hatte ein Kommunikationssystem unter Henricks Hühnern entdeckt. Es zu entschlüsseln, dazu reichte seine menschliche Intelligenz nicht. Und ebenso erging es ihm mit den Ratten. Aber auch sie »sprachen« miteinander.
Und Isenhart hatte noch nie eine Ratte gesehen, die sich in eine Höhle ohne zweiten Zugang gerettet hätte. Die bekannten Größen Ratte und Höhle wiesen auf eine Unbekannte hin,
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